Analyse des Scheiterns

von | 11. Apr 2024 | Aktuell, Verfassungsdossier

Die Transformation der 1990er Jahre in Russland ist gescheitert. Es ist wichtig, die Gründe dafür zu analysieren. Auch wenn es im dritten Jahr nach dem Großangriff gegen die Ukraine kaum denkbar ist: Sollte es in Zukunft eine Chance auf den politischen Wandel im Land geben, ist eine kritische Auseinandersetzung mit den Ursachen des Scheiterns unabdingbar, damit ein neuer Versuch gelingen kann, schreibt Caroline von Gall.

Der russische Machthaber Wladimir Putin stützt seine dritte Amtszeit in Folge auf die im März 2024 abgehaltene Scheinwahl, die ihn bis 2030 zum „Präsidenten“ machen soll. Dabei steht ihm laut Verfassung gar keine weitere Amtszeit zu: Die vor gut 30 Jahren am 12. Dezember 1993 in Kraft getretene Verfassung statttet das Staatsoberhaupt mit großer Macht aus, die Dauer ihrer Ausübung war aber auf zwei Amtszeiten in Folge beschränkt. Mit der rechtswidrigen Verfassungsreform von 2020 hat Putin diese Machtbeschränkung abgeschafft. Auch weil diese Reform gegen zentrale verfassungsrechtliche und völkerrechtliche Prinzipien verstieß, halten zahlreiche Beobachter die Wahl vom 17. März für illegitim..

Wie konnte es dazu kommen, dass die liberale demokratische Verfassung Putins Diktatur nicht verhindern konnte? Und welche Lehren können daraus für ein Russland nach Putin gezogen werden?

30 Jahre später blickt Vladimir Gelman noch einmal auf die Verfassungskrise von 1993 und zeichnet ein düsteres Bild von der Entstehung der russischen Verfassung, die damals wegen der deutlichen Abkehr vom sowjetischen System gerade auch im Westen von großen Hoffnungen begleitet war. Gelman erinnert daran, dass die Verfassung Ergebnis eines bewaffneten Machtkampfes zwischen Jelzin und dem Volksdeputiertenkonkgress war. Gelman wirft Jelzin vor, bereits damals mit der gewaltsamen Lösung des Konflikts den Weg zu Putins Gewalt-Regime vorgezeichnet zu haben. Die Gewaltanwendung sei einer der Gründe dafür gewesen, dass Jelzin die Macht an Putin übergeben habe, der ihm Straffreiheit garantierte. Nach der Devise „the winner takes it all“ habe sich Jelzin 1993 als Präsident in der Verfassung mit übermäßiger Macht ausgestattet. Tatsächlich sind die Gewalt während der Entstehung der Verfassung sowie die Machtfülle des Präsidenten zentrale Geburtsfehler der Verfassung.

Gelman vernachlässigt in seinem Beitrag aber zentrale positive Aspekte der Verfassung von 1993, etwa dass sie auf revolutionäre Weise eine zweite Ebene der Machtbeschränkung einbaut: den völkerrechtlichen Menschenrechtsschutz und das Recht der Bürger, auch internationale Gerichte anzurufen. Dies hatte jedenfalls bis 2012 einen erheblichen Effekt. Heute ist deutlich sichtbar, dass die Phase der relativen Öffnung und Freiheit der 1990er und 2000er Jahre und die Mitgliedschaft im Europarat Spuren hinterlassen haben. Es hat sich eine sehr gut ausgebildete und kompetente Anwaltschaft herausgebildet, die selbst heute noch die von Repressionen betroffene Bevölkerung verteidigt und vor Gericht die Staatsmacht herausfordert. Die Anwältinnen und Anwälte tun dies mit beindruckendem Mut, Integrität, Sachverstand und mit einer nach rechtsstaatlichen Gesichtspunkten exzellenten Verteidigung, auch wenn diese vor Gericht meist erfolglos bleibt.

Dieses neue, liberale Verständnis von der Verfassung und den Menschenrechten als Instrumente der Machtbeschränkung wird aber unter Putin jedenfalls ab 2012 konsequent staatlich bekämpft. Dies geschieht auch mit tatkräftiger Unterstützung des Verfassungsgerichts, das ein autoritäres, in vielen Aspekten sowjetisches Verständnis von der Verfassung als Machtinstrument durchsetzt, das an die Stalin-Verfassung von 1936 erinnert. Dmitry Dubrovksiy zeigt am Beispiel der Menschenrechte in der juristischen Ausbildung an Hochschulen, wie Ideen und Konzepte des sowjetischen Verständnisses von Menschenrechten unter Putin ab den 2010er Jahren wieder stark gemacht werden.

Tatsächlich ist weniger der Text der Verfassung zu den Menschenrechten problematisch, als die restriktive Auslegung durch das repressiv-autoritäre Regime und seine Institutionen. Der Beitrag des Menschenrechtsanwalts Nikolai Bobrinsky betont in diesem Sinne, dass die Jelzin-Verfassung von 1993 auch zentrale Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit aufnimmt, an die die staatliche Macht gebunden wird. Anders als nach der sozialistischen Zeit kann dies heute Anknüpfungspunkt sein, um das Putin-Regime und seine Mitstreiter nach einem Regimewechsel zur Rechenschaft zu ziehen. Bobrinsky regt an, sich dem Zynismus der sowjetischen Verfassungspraxis nicht hinzugeben, wonach die Verfassung nur der Macht dienen kann, sondern auch heute weiter ihre rechtstaatlichen Inhalte hochzuhalten und über die Umsetzung nachzudenken.

In diesem Zusammenhang muss auch an den Verfassungsentwurf Andrej Sacharows aus dem Jahr 1989 erinnert werden, der nach Jahrzehnten des sowjetischen Verfassungsmissbrauchs das Bild eines anderen Russlands zeichnet. Gerade im Licht des gegenwärtigen Krieges ist es bemerkenswert, welch hohe Bedeutung Sacharow hier dem Frieden beimisst. Menschenrechte, Frieden und Fortschritt werden als untrennbare Einheit gesehen. Die Friedlichkeit des Staates nach innen und außen ist das zentrale Charakteristikum der Sacharow-Verfassung.

Bemerkenswert ist auch, dass Andrej Sacharow, der selbst Krieg und schwerste Verfolgung durch den Staat erlitten hatte, ganz am Ende seines Lebens weiter an die Möglichkeit der Reform des russischen Staatswesens geglaubt hat. Auch wenn die Transformation der 1990er Jahre gescheitert ist, konnten in der Umbruchphase Impulse für den Rechtsstaat gesetzt werden. Sollte die jüngere Generation von Menschenrechtsanwälten nach einem künftigen Regimewechsel Posten in Gerichten und Institutionen übernehmen, dann könnte Vieles gelingen. Aber dazu müssten die politischen Voraussetzungen geschaffen werden, was derzeit kaum denkbar erscheint. In jedem Fall ist es für die Zukunft wichtig, die Gründe für das Scheitern der Verfassungstransformation in Russland genau zu analysieren. Dazu soll dieses Dossier anregen.

 

– Wladimir Gelman: Wie der Gewalt der Weg geebnet wurde

– Dmitry Dubrovskiy: Menschenrechte in der Hochschullehre in Russland

– Nikolai Bobrinsky: Was kann die russische Verfassung noch leisten?

– Otto Luchterhand: Anmerkungen zu Andrej Sacharows Verfassungsentwurf

– Dietrich Frenzke: Die verschiedenen Fassungen von Andrej Sacharows Verfassungsentwurf

 

Die englischen Originalfassungen der Artikel Gelmans, Dubrovskiys und Bobrinskys sind in der Debatte “The Legal Tools of Authoritarianism” bei verfassungsblog.de erschienen.

Das Dossier wurde im Rahmen des vom Auswärtigen Amt unterstützten Projekts „Wege zur Aufarbeitung von Krieg und Diktatur“ der Deutschen Sacharow Gesellschaft veröffentlicht.

Schlagwörter: Caroline von Gall · Russland · Verfassung
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