Was kann die russische Verfassung noch leisten?

von | 7. Apr 2024 | Aktuell, Verfassungsdossier

Kann es in einem Russland nach Putin Gerechtigkeit geben? Der russische Rechtswissenschaftler und Menschenrechtsanwalt Nikolai Bobrinsky argumentiert, dass die Verfassung von 1993 durchaus geeignet ist, um Angehörige der Putin-Justiz zur Rechenschaft zu ziehen. Dabei zieht er interessante Vergleiche mit der Aufarbeitung des DDR-Unrechts.

 

Drei Jahrzehnte nach Verabschiedung der russischen Verfassung müssen wir uns eingestehen, dass sie sich nicht als wirksames Schutzinstrument gegen Machtusurpation und staatlichen Terror erwiesen hat. Seit 2002 sind in Russland Dutzende repressiver Gesetze verabschiedet worden, die Meinungs-, Gewissens-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit willkürlich und unverhältnismäßig beschränken und die friedliche Ausübung dieser Freiheiten unter Strafe stellen. Ungeachtet einiger halbherziger Entscheidungen zum Schutz der Menschenrechte, etwa im Fall Ildar Dadin (Urteil d. Verfassungsgerichts Nr. 2-P v. 10. 02. 2017), ist das Verfassungsgericht nicht in der Lage gewesen, die sich auftürmende Terrorwelle zu stoppen. Und mit Beginn des offenen russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine reiten seine Richterinnen und Richter bereitwillig auf dieser Welle mit und sind dem Kreml zu Diensten, indem sie Maßnahmen rechtfertigen, mit denen Widersacher Putins und seiner Politik ausgeschaltet werden. Das Verfassungsgericht ist in seiner Entscheidung zur Beschwerde des Oppositionspolitikers Ilja Jaschin sogar so weit gegangen, ihn implizit zu beschuldigen, Russlands Gegnern Beihilfe zu leisten. Jaschin war aufgrund eines neuen Strafparagrafen wegen Verbreitung von „Falschinformationen über die Streitkräfte“ in einem Kommentar zum Massaker in Butscha zu achteinhalb Jahren Freiheitsstrafe verurteilt worden:

„Öffentliche Handlungen, unter anderem Auftritte und Äußerungen, die zielgerichtet eine negative Bewertung von Handlungen zum Schutz der Interessen der Russischen Föderation und ihrer Bürger oder zur Aufrechterhaltung des internationalen Friedens und der Sicherheit beinhalten, können insbesondere eingedenk einer kumulativen Wirkung negative Auswirkungen auf die Umsetzung der betreffenden Maßnahmen und Entscheidungen haben, die Entschlossenheit und Effizienz verringern, mit der die Streitkräfte der Russischen Föderation die ihnen gestellten Aufgaben erfüllen, sowie die Motiviertheit von Militärangehörigen und anderen unmittelbar beteiligten Personen reduzieren und dadurch faktisch – selbst wenn das nicht unmittelbar das Ziel war – jene Kräfte unterstützen, die den Interessen der Russischen Föderation und ihrer Bürger entgegenstehen, und die die Aufrechterhaltung des internationalen Friedens und der Sicherheit behindern [Hervorhebung. d. d. Autor]“
(Beschluss Nr. 1398-O d. Verfassungsgerichts d. RF v. 30. 05. 2023).

Auch untere Gerichtsinstanzen wiesen angebliche Verfassungsverletzungen zurück, die von Personen angeführt wurden, die wegen dieses oder anderer „terrorisierender“ Paragrafen des Strafgesetzbuches vor Gericht standen.

Die Frage, unter welchen Bedingungen die russische Verfassung als sicheres Bollwerk gegen das Wiederaufleben eines autoritären Regimes und von staatlichem Terror hätte fungieren können, erfordert eine gesonderte Diskussion. Ich schlage daher vor, dass wir einige Schritte vorausschauen und uns ein optimistisches Szenario vor Augen führen, nämlich das eines neuen Versuchs, in Russland Demokratie und einen Rechtstaat zu errichten, und zwar ganz unabhängig davon, wie wenig wahrscheinlich ein solches Szenario derzeit erscheinen mag. Eines der vorrangigen Ziele eines solchen Versuchs wäre, Straflosigkeit für die Verbrechen des Putin-Regimes zu verhindern. Die Suche nach strafrechtlichen Lösungen wird unweigerlich auf mehrere Probleme stoßen, vor denen bereits viele postautoritäre Länder standen: Rückwirkungsverbot, Vertrauensschutz und Rechtssicherheit. Die Richterinnen und Staatsanwälte, die Ilja Jaschin ins Gefängnis schickten, werden, falls sie jemals wegen Rechtsbeugung angeklagt werden sollten, ihr Verhalten sicherlich damit rechtfertigen, dass sie lediglich geltendes Recht angewandt hätten. Könnte die Verfassung von 1993 Argumente gegen eine solche Rechtfertigung liefern?

Aufarbeitung von DDR-Unrecht gelang nur eingeschränkt

Zunächst möchte ich auf die Erfahrungen im vereinten Deutschland mit der Verfolgung von in der DDR verübten Verbrechen verweisen. Insgesamt wurden dort mehr als 52.000 Ermittlungsverfahren zu Rechtsbeugung eröffnet, die von Angehörigen der ostdeutschen Justiz mutmaßlich verübt wurde. Bei dieser beträchtlichen Verfahrenszahl wurde allerdings nur in 0,7 Prozent der Fälle Anklage erhoben (397 Personen); und es führte lediglich zu 181 Verurteilungen (s. hierzu Keller, 2013, S. 639-640). Einer der Gründe für diese geringe Verurteilungsrate war die strenge Auslegung von Rechtsbeugung durch die DDR-Justiz, die der Bundesgerichtshof (BGH) vorgab. Der BGH bezog sich in seinen Entscheidungen auf die sozialistische Verfassungsordnung in der DDR, die es nicht möglich mache, das Vorgehen von Richter und Staatsanwältinnen anhand der Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit zu bewerten. Eine solche Auslegung des Rechts würde dem durch Art. 103 Abs. 2 des Grundgesetzes festgeschriebenen Rückwirkungsverbot widersprechen (BGH, 06.10.1994 – 4 StR 23/94).

Der BGH hat den „demokratischen Zentralismus“, die fehlende Gewaltenteilung sowie die Theorie und Praxis der „sozialistischen Rechtsordnung“ als Merkmale des ostdeutschen Rechtssystems betrachtet. Gemäß der Schlussfolgerungen des BGH sei bei der Beurteilung der Gesetzwidrigkeit von Entscheidungen von Justizangehörigen in der DDR das Konzept der „sozialistischen Rechtsordnung“ zu berücksichtigen, die an sich zu „verfassungsimmanenten Schranken für garantierte Grundrechte“ geführt habe. Unter anderem war die durch die DDR-Verfassung garantierte Meinungsfreiheit auf Äußerungen beschränkt, die dem Staat genehm waren. Die Bürgerinnen und Bürger genossen also gegenüber dem Staat keine Meinungsfreiheit. Darüber hinaus sei „zu berücksichtigen, daß die Rechtspflege von Verfassungs wegen vorrangig dem Schutz und der Entwicklung der DDR und ihrer Staats- und Gesellschaftsordnung dienen sollte“, und eben nicht der Person (BGH, 15.09.1995 – 5 StR 713/94). Angesichts dieser Einschränkungen blieb die große Mehrheit der Fälle von Verfolgung aufgrund des ostdeutschen „politischen Strafrechts“ ungesühnt. Der Berliner Staatsanwalt Christoph Schaefgen bemerkte, die tolerante Haltung der gesamtdeutschen Gerichte in Bezug auf Taten des staatlichen Terrors in der DDR sei proportional zur Intensität des Widerstands gewesen, die die Opfer der Diktatur entgegenbrachten: „Je widerständiger sich der DDR-Bürger oder die -Bürgerin im Unrechtsstaat DDR verhielten, umso härter durfte die Strafe sein“ Schaefgen, 23.02.2022).

Viele Taten, die in Russland aus politischen Gründen kriminalisiert werden, etwa öffentliche Aktionen, die auf eine Diskreditierung der russischen Streitkräfte abzielen (§ 280.3 des russischen Strafgesetzbuches) oder öffentliche Aufrufe zu Taten, die sich gegen die Sicherheit des Staates richten (§ 280.4) ähneln sehr dem „politischen Strafrecht“ in der DDR. Bedeutet dies, dass Gerichte in einem Russland nach Putin Staatsanwältinnen und Richter freizusprechen müssen, die Andersdenkende aufgrund der erwähnten und ähnlicher Bestimmungen mit Repressalien überzogen? (Daten zu politisch motivierter Strafverfolgung: OVD-Info, 16.11.2023)

Die russische Verfassung schreibt Freiheiten und Rechtsstaat fest

Ich bin der Ansicht, dass die Verfassung von 1993 den Staatsanwaltschaften und Gerichten etliche Argumente an die Hand gibt, um die Rechtfertigung der Beschuldigten zu entkräften, die sich auf das Rückwirkungsverbot, den Vertrauensschutz und auf Rechtssicherheit berufen. Die Verfassung enthält immer noch die bisher nicht geänderten Abschnitte 1 und 2 („Grundlagen der Verfassungsordnung“ und „Rechte und Freiheiten von Personen und Bürgern“). Im Unterschied zur DDR-Verfassung von 1968, die die DDR als sozialistischen Staat unter der Führung „ihrer marxistisch-leninistischen Partei“ postulierte (Art. 1 Abs. 1), fußt die Russische Föderation, folgt man deren Verfassung, auf ideologischer und politischer Vielfalt (Art. 13 Abs.1 und 3). Sie anerkennt die Person, deren Rechte und Freiheiten als höchste Werte (Art. 2) und ist ein Rechtsstaat (Art. 1). Artikel 18 der Verfassung schreibt fest, dass die Rechte und Freiheiten von Personen und Staatsbürgern unmittelbar verwirklicht werden, dass diese Rechte die Bedeutung, den Sinn, den Inhalt und die Anwendung der Gesetze bestimmen. Sie sind auch für das Vorgehen der Legislative und der Exekutive sowie der lokalen Selbstverwaltung bestimmend. Und es wird festgeschrieben, dass diese Rechte und Freiheiten durch die Justiz gewährleistet werden. Artikel 120 verkündet immer noch die Unabhängigkeit von Richterinnen und Richtern, und dass sie allein der Verfassung und dem Gesetz unterworfen sind. Im Zuge des Verfassungsgrundsatzes eines Vorrangs des Völkerrechts, der seit 1993 unverändert blieb (Art. 15 Abs. 4), hat das Strafgesetzbuch festgelegt, dass Strafgesetze sich auf die international anerkannten Grundsätze und Normen des Völkerrechts stützen (§ 1 Abs. 2 d. Strafgesetzbuches). Im russischen Gesetzbuch über Ordnungswidrigkeiten wird sogar vorgeschrieben, dass Bestimmungen eines internationalen Vertrags anzuwenden sind, wenn das russische Gesetzbuch diesen widerspricht.

Somit sind in der Verfassung hinreichend Bestimmungen vorhanden, um die Verfolgung einer friedlichen Nutzung der Meinungsfreiheit oder der Versammlung als eine rechtswidrige Verletzung der Menschenrechte einzustufen, selbst wenn diese Verfolgung unter „gesetzlicher Bewilligung“ erfolgte (s. hierzu Teitel, 2022, S. 220). Der Umstand, dass das Verfassungsgericht bislang – mit seltenen Ausnahmen – einen entgegengesetzten Standpunkt eingenommen und sich geweigert hat, Beschwerden über die Verfassungswidrigkeit von Putins „politischem Strafrecht“ anzunehmen, schließt somit nicht aus, dass eine solche Möglichkeit in der Zukunft besteht. Dieser Ansatz würde es ermöglichen, rückwirkend die Entscheidungen, die strafrechtlich angewandt wurden, als verfassungswidrig zu bewerten. Das ist eines der Elemente des Tatbestandes der Rechtsbeugung gemäß § 305 des russischen Strafgesetzbuches.

Das zweite Element wäre das Wissen um die Unrechtmäßigkeit: Richterinnen und Richter müssen sich bewusst sein, dass ein zu fällendes Urteil unrechtmäßig ist. Eine Beweisführung in Bezug auf dieses Element wäre sehr schwierig, da laut der russischen Strafprozessordnung (§ 17 Abs. 1) die Vorsitzenden einen Fall prinzipiell aufgrund ihrer inneren Überzeugung zu entscheiden haben. Allerdings könnte sich die Bereitschaft zu einem rechtswidrigen Urteil darin manifestieren, dass der Verweis des/der Angeklagten auf einen Konflikt zwischen dem anzuwendenden Strafrecht und der Verfassung bzw. internationalem Recht ignoriert wird (das Gericht ist verpflichtet, eine Zurückweisung dieser Argumente zu begründen, tut dies aber gewöhnlich nicht). Oder sie wird dadurch deutlich, dass dem/der Angeklagten verweigert wird, die Verfassungsmäßigkeit der im konkreten Fall angewandten Bestimmung vom Verfassungsgericht prüfen zu lassen. Selbst in den Fällen, in denen das Verfassungsgericht eine Bestimmung des politischen Strafrechts für verfassungsgemäß befindet, verbleibt beim Gericht die Verpflichtung, internationales Recht anzuwenden, wenn die innerstaatliche Gesetzgebung diesem widerspricht (Resolution Nr. 5 des Plenums des Obersten Gerichts v. 10. 10. 2003, Abs.9). Ein weiterer Indikator für die Bereitschaft zur Rechtsbeugung durch Anwendung eines „Terror-Strafrechts“ kann der Kontext sein, in dem ein Urteil gefällt wird, wie zum Beispiel eine Kampagne zur Unterdrückung der politischen Opposition oder ein Angriffskrieg.

Die hier skizzierten Überlegungen stellen lediglich eine Einladung zur Diskussion über die Zukunft der verfassungsrechtlichen Entwicklung Russlands dar – und über die Frage, wie die Verbrechen der Putin-Diktatur aufgearbeitet werden können.

 

Das englische Original ist bei Verfassungsblog.de erschienen. Übersetzung: Hartmut Schröder

Über den Autor

Nikolai Bobrinsky ist ein Menschenrechtsanwalt aus Russland; er forscht zu Übergangsjustiz (Transitional Justice) und ist derzeit Doktorand an der Humboldt-Universität zu Berlin.

Lesetipps

Keller, Iris: Die strafrechtliche Aufarbeitung von DDR-Justizunrecht. Peter Lang GmbH, 2013.

Schaefgen, Christoph: Wie viel DDR-Regierungskriminalität kam vor Gericht? In: Bundeszentrale für politische Bildung, Deutschland Archiv, 23.02.2022. https://www.bpb.de/themen/deutschlandarchiv/505484/wie-viel-ddr-regierungskriminalitaet-kam-vor-gericht/

Teitel, Ruti: Transitional Justice. Oxford University Press, 2002.

 

 

Das Dossier wurde im Rahmen des vom Auswärtigen Amt unterstützten Projekts „Wege zur Aufarbeitung von Krieg und Diktatur“ der Deutschen Sacharow Gesellschaft veröffentlicht.

Schlagwörter: Russland · Verfassung
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