Wege zur Aufarbeitung von Krieg und Diktatur (2023/24)

Mit dem Angriffskrieg gegen die Ukraine ist Russland innenpolitisch endgültig zu einer Diktatur geworden. Mit Einführung der Militärzensur wurden die verbleibenden unabhängigen Medien des Landes zerschlagen und die meisten sozialen Netzwerke blockiert. Praktisch alle ernsthaften Gegner des Kremls sitzen hinter Gittern oder mussten ins Ausland fliehen. Ihre politischen Strukturen wurden zerstört. Proteste gegen den Krieg werden im Keim erstickt und jede kritische Äußerung zieht gravierende persönliche Risiken nach sich.

Hunderttausende Russinnen und Russen haben das Land verlassen, sei es aus Furcht vor Repressalien, aus Furcht vor Einberufung zum Militär oder weil sie mit dem verbrecherischen Krieg nichts zu tun haben wollen. Obwohl eine Mehrheit der Bevölkerung Umfragen zufolge die Aggression unterstützt, gibt es in Russland nach wie vor Millionen unabhängig denkende Menschen. Tausende haben gegen den Krieg demonstriert und ihre Freiheit riskiert. Viele weitere engagieren sich unter immer schwierigeren Bedingungen in unabhängigen zivilgesellschaftlichen Initiativen für Menschenrechte und humanitäre Hilfe, Geschlechtergerechtigkeit und Naturschutz. Sie sind in ihrer eigenen Gesellschaft zunehmend isoliert und von internationaler Zusammenarbeit abgeschnitten.

Zahlreiche geflohene Russinnen und Russen versuchen im Exil zivilgesellschaftliche Strukturen und unabhängige Medien aufbauen und damit Kanäle zu etablieren, die ihren Stimmen in der russischen Gesellschaft Gehör verschaffen. Unterstützt von der Diaspora, versuchen im Land gebliebene Aktivisten neue Formen des gewaltlosen Widerstands gegen die militärische Diktatur des Kremls.

Diejenigen Russinnen und Russen, die demokratische Werte teilen und sich für den Krieg gegen die Ukraine verantwortlich fühlen, ob sie nun in Russland oder im Ausland leben, brauchen moralische Unterstützung und einen fortgesetzten Dialog mit Deutschland und Europa. Sie stehen vor der schwierigen Aufgabe zu analysieren, wie es zu dem verbrecherischen Krieg kommen konnte, der ohne die Duldung und Unterstützung der russischen Gesellschaft nicht möglich wäre. Die Erfahrungen und Erkenntnisse der deutschen Gesellschaft bei der Aufarbeitung ihrer eigenen totalitären Vergangenheit könnten ein Ausgangspunkt für einen solchen Dialog sein.

Ein Dialog mit dem „freien Russland“ ist auch für die deutsche Zivilgesellschaft nützlich und wichtig. Er hilft, der russischen Propaganda im Westen erfolgreich entgegenzutreten und schafft Zugang zu denjenigen in der russischsprachigen Diaspora, die keine klare Haltung gegen Putin und den Krieg einnehmen.

Während Russland einen verbrecherischen Krieg führt und seine Nachbarstaaten bedroht, nehmen die Gesellschaften dieser Nachbarländer besonders viele geflohene Russinnen und Russen auf. Eine Einbeziehung der demokratischen Zivilgesellschaften aus diesen Nachbarländern in den Dialog mit dem „freien Russland“ könnte fruchtbar sein.

Zu dem Projekt gehören auch Andrej-Sacharow-Stipendien für einen Forschungsaufenthalt in Deutschland für  junge Wissenschaftler aus Russland und Belarus, die infolge ihres wissenschaftlichen oder gesellschaftlichen Engagements aus ihrer Heimat fliehen mussten.

Mit dem Projekt “Wege zur Aufarbeitung von Krieg und Diktatur” wollen wir
  • In einer Zeit der massiv eingeschränkten offiziellen Beziehungen mit Russland das Wissen über den jeweils anderen Diskurs sowie den kontinuierlichen Erfahrungs- und Meinungsaustausch zwischen demokratisch gesinnten Deutschen und Russinnen und Russen fördern;
  • die wachsende europäisch orientierte Diaspora aus Russland und Belarus sowie die demokratischen Zivilgesellschaften Georgiens und Moldaus in diesen Austausch einbeziehen;
  • Stimmen russischer Dissidenten und Kriegsgegnerinnen in der deutschen Öffentlichkeit Gehör verschaffen.

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Das Projekt wird vom Auswärtigen Amt unterstützt.

Dialoge in der Turbulenzzone (2022/23)

Die deutsch-russischen Kontakte bis Februar 2022 hatten eine Breite und Dichte wie zwischen kaum einem anderen EU-Mitglied und Russland. Der russische Angriff auf die Ukraine hat fast alle institutionalisierten Kontakte sowie den Dialog mit der Zivilgesellschaft zum Erliegen gebracht.

Unabhängige Medien und NGOs in Russland unterliegen seitdem staatlichen Repressionen von bislang nicht gekanntem Ausmaß, so dass viele von ihnen ihre Arbeit einstellen oder ins Exil gehen mussten. Die Welle repressiver Gesetze sowie eine Atmosphäre aus Aggression und Angst haben die Bereitschaft russischer Bürgerinnen und Bürger, mit ausländischen Partnern in Kontakt zu treten, tiefgreifend beeinträchtigt.

Hunderttausende Menschen sind aus dem Land geflohen, entweder aus Angst vor militärischer Mobilisierung oder vor Repressionen, oder weil sie einfach nicht bereit waren, die aggressive Politik der russischen Regierung zu unterstützen.

Und auch wenn eine Mehrheit in Russland die aggressive Politik des Kremls unterstützt, so sind Millionen frei denkender Bürgerinnen und Bürger im Land geblieben. Tausende haben offen gegen den Krieg protestiert und dabei ihre Freiheit riskiert. Sie taten dies aus einem tiefen Verantwortungsgefühl heraus, auch wenn sie die Regierung nicht gewählt haben und der Staat sie unterdrückt und sogar versucht, seine aktivsten Gegner zu ermorden.

Alle diese Menschen, egal ob sie sich derzeit in Russland oder außerhalb aufhalten, brauchen moralische Unterstützung, auch durch die Fortsetzung des Dialogs. Sie stehen vor der gewaltigen Aufgabe, die Tragödie, in die Wladimir Putin und sein Regime die Ukraine, Europa aber auch Russland selbst gestürzt haben, zu analysieren und zu verstehen.

Für den Westen und besonders für die deutsche Gesellschaft ist ein solcher Dialog nützlich und wichtig. Damit lässt sich der politische und moralische Verfall der russischen Gesellschaft aufdecken, der diesen Krieg möglich gemacht hat, aber auch die Verantwortung des Westens, dessen Politik des „business as usual“ und “ Putin-Verstehens“ dem russischen Präsidenten das Gefühl vermittelt hatte, dass ein Angriff auf die Ukraine ein kalkulierbares Risiko darstellt.

Die Fortsetzung des Dialogs mit dem fortschrittlichen und frei denkenden Teil der russischen Gesellschaft ist heute ebenso notwendig wie eine entschiedene Haltung gegenüber der aggressiven Politik des russischen Regimes. Ein solcher Dialog ist eine Vorstufe, um die Voraussetzungen für eine Rückkehr der russischen Gesellschaft in den europäischen Werteraum zu schaffen.

Das Vermächtnis des russischen Wissenschaftlers, Humanisten und Nobelpreisträgers Andrej Sacharow kann als gute Referenzquelle und Ausgangspunkt für einen solchen Dialog dienen.  Für viele russische Bürger, die die Werte von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Humanismus teilen, bleibt Andrej Sacharow ein moralischer Kompass. Dies gilt besonders jetzt, wo diese Werte so existenziell bedroht sind.

Bereits in den 1970er Jahren warnte Sacharow, dass ein Regime, das die Menschenrechte im eigenen Land brutal verletzt, unweigerlich zu einer Bedrohung der internationalen Sicherheit wird; Manipulation der öffentlichen Meinung, Aggressions- und Hasspropaganda ebnen den Weg für blutige Diktatoren, während die Abhängigkeit vieler Staaten von Ressourcen aus Autokratien eine strategische Bedrohung für die freie Welt sei.

Der Protest gegen den Afghanistankrieg (1979-1989), die letzte Großoffensive der Sowjetunion, die Sacharow als kriminelles Abenteuer bezeichnete, war ein wichtiges Thema seines öffentlichen Engagements und ein Grund für die harten politischen Repressionen gegen ihn.

Das Projekt zielt darauf ab:

  • vor dem Hintergrund des Zusammenbruchs der russisch-deutschen Beziehungen das Vertrauen und die Verbindungen, die zwischen den demokratischen Zivilgesellschaften beider Länder in den letzten drei Jahrzehnten aufgebaut wurden, zu bewahren.
  • das Bewusstsein für den jeweils anderen Diskurs, einen direkten Austausch von Erfahrungen, Meinungen und Wissen zwischen den demokratischen Zivilgesellschaften beider Länder zu fördern und die wachsende europäisch orientierten russischsprachige Diaspora in diesen Austausch miteinzubeziehen
  • damit die Voraussetzungen für eine Rückkehr der russischen Gesellschaft in den europäischen Wertebereich zu schaffen.

Schwerpunktthemen sind:

  • Mein Krieg: Wie geht die russische Gesellschaft mit ihrer Mitverantwortung für den Krieg um?
  • Ein Staat ohne Bürger? Russland am Rande des Totalitarismus
  • Was kann die die russische Zivilgesellschaft und die internationale Gemeinschaft der russischen Staatspropaganda entgegensetzen?
  • Wege in den Abgrund: Gibt es Parallelen zwischen Russland heute und Deutschland in den späten 1930er Jahren?
  • Juristische Aufarbeitung russischer Kriegsverbrechen in der Ukraine. Welche Möglichkeiten und Formate gibt es?
  • Russische EmigrantInnen in Europa: Wie entsteht eine handlungsfähige pro-europäische Diaspora?

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Das Projekt wurde aus Mitteln des Programms „Ausbau der Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft in den Ländern der Östlichen Partnerschaft und Russland“ des Auswärtigen Amtes gefördert.

100 Jahre Sacharow (2021 abgeschlossen)

Am 21. Mai 2021 wäre Andrej Sach­a­row 100 Jahre alt gewor­den. Der Phy­si­ker, Dissident und Friedensnobelpreisträger starb 1989, aber seine zen­tra­len Themen sind heute aktueller denn je: Die Erosion der inter­na­tio­na­len Frie­dens­ord­nung, die Über­las­tung des Öko­sys­tems und das Erstar­ken autoritärer Regimes fordern zum Handeln heraus.

Sach­a­rows Ver­mächt­nis ist viel­fäl­tig. Als Wis­sen­schaft­ler fühlte er sich für die Folgen seiner nukleraren Erfin­dun­gen ver­ant­wort­lich, welche die Zukunft der Zivilisation gefähr­den könnten.  Sach­a­row ver­tei­digte das Konzept der intel­lek­tu­el­len Frei­heit als grund­le­gende Vor­aus­set­zung für die Lösung glo­ba­ler Pro­bleme. Er kombinierte kom­pro­miss­lo­ses Eintreten für seine Ideale mit einem rea­lis­ti­schen Ansatz, um Umwelt­schutz, nuklea­re Abrüs­tung und internationale Sicherheit zu erreichen.

Im Zentrum seines gesell­schaft­li­chen Enga­ge­ments stand der Kampf für Men­schen­rechte, ins­be­son­dere für die Frei­las­sung poli­ti­scher Gefan­ge­ner. Sacharows Schlüs­sel­bot­schaft ist, dass Frieden, Men­schen­rechte und tech­ni­scher Fort­schritt Teile eines Ganzen sind: In keinem der drei Berei­che kann man Erfolg haben, ohne die anderen zu berücksichtigen.

Andrej Sach­a­row wurde zu Leb­zei­ten und in den ersten Jahren nach seinem Tod all­ge­mein aner­kannt. 1975 erhielt er den Frie­dens­no­bel­preis. Das Euro­päi­sche Par­la­ment rief 1988 den Sach­a­row-Preis für geis­tige Frei­heit ins Leben, der 2021 dem inhaftierten russischen Oppositionellen Alexej Nawalny verliehen wurde.

Obwohl in Deutsch­land (etwa in Schwe­rin und Nürn­berg) Straßen und Plätze seinen Namen tragen, war das Ver­hält­nis zu Sach­a­row zu dessen Leb­zei­ten hierzulande schwie­rig. Die kremltreue DDR-Pro­pa­ganda bewertete das gesell­schaft­li­che Enga­ge­ment des Wis­sen­schaft­lers negativ. Im Westen Deutschlands war Sach­a­row in den Aus­ein­an­der­set­zun­gen um Ost­po­li­tik, Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­gung, linken Ter­ro­ris­mus und kon­ser­va­ti­ve Wende für Intel­lek­tu­elle und die Zivil­ge­sell­schaft schwer ein­zu­ord­nen und blieb ihnen des­we­gen fremd (vgl. Michael Hänel: Zwi­schen allen Stühlen: der Mahner und Huma­nist Andrej Sach­a­rov. Zeitschrift OSTEUROPA, 11–12/2014).

Aktueller denn je

In den 1990er Jahren schien es, als seien Sacharows Haupt­ziele erreicht. Die Gefahr eines Atom­krie­ges nahm dra­ma­tisch ab, der Kalte Krieg ging zu Ende und Deutsch­land wurde wie­der­ver­ei­nigt. Die Men­schen­rechts­be­we­gung machte welt­weit Fort­schritte. Die Zahl der Demokratien nahm zu, und Russ­land schien sich ebenfalls demokratisch zu entwickeln. Sach­a­rows Ver­mächt­nis schien an Rele­vanz für die gesell­schaft­li­che Dis­kus­sion zu ver­lie­ren. Im ver­ei­nig­ten Deutsch­land blieben seine Gedan­ken weit­ge­hend unbekannt.

Doch im 21. Jahr­hun­dert stehen die zen­tra­len Themen aus Sach­a­rows Wirken erneut ganz oben auf der Agenda. Regio­nale Kon­flikte, die Erosion der inter­na­tio­na­len Frie­dens­ord­nung, nukleare Auf­rüs­tung sowie Umweltkatastrophen sind wieder zu drän­gen­den Fragen gewor­den. Das Inter­net, dessen Ent­ste­hung Sach­a­row vor­her­ge­sagt hatte, erweist sich als Inno­va­tion, die nicht nur intel­lek­tu­elle Frei­hei­ten stärkt, sondern auch neue Bedro­hun­gen mit sich bringt. Natio­na­lis­mus, Ras­sis­mus und andere Arten von Into­le­ranz, das Erstar­ken auto­kra­ti­scher Regime und anti­de­mo­kra­ti­scher Ideo­lo­gien stellen wach­sende Her­aus­for­de­rung für den Schutz der Men­schen­rechte dar.

Für viele rus­si­sche Bür­ge­rin­nen und Bürger, die die Werte von Demo­kra­tie, Rechts­staat­lich­keit und Huma­nis­mus teilen, bleibt Andrej Sach­a­row gerade in einer Zeit, in der diese Werte in der Russischen Föderation gefähr­det sind, ein mora­li­scher Kompass.

Sach­a­rows 100. Geburts­tag bietet einen guten Anlass, die Aktua­li­tät des Nobel­preis­trä­gers als Wis­sen­schaft­ler und huma­nis­ti­schen Denker, demo­kra­ti­schen Poli­ti­ker und wich­tige Iden­ti­fi­ka­ti­ons­fi­gur für die Men­schen­rechts­be­we­gung sicht­ba­rer zu machen und in einer Zeit wach­sen­der Ent­frem­dung zwi­schen Russ­land und Deutsch­land zum Gespräch über fun­da­men­tale Grund­werte des Zusam­men­le­bens in Europa beizutragen.

Das Projekt wurde vom Auswärtigen Amt unterstützt