Anmerkungen zu Andrej Sacharows Verfassungsentwurf

von | 5. Apr 2024 | Aktuell, Verfassungsdossier, Wer war Sacharow

Wenige Monate nach Andrej Sacharows Tod analysierte der prominente Ostrecht-Experte Otto Luchterhandt dessen Entwurf für eine neue sowjetische Verfassung. Professor Luchterhandts Beitrag für die Zeitschrift „Osteuropa“ wurde im Sommer 1990 verfasst und erschien im Februar 1991 – noch vor Auflösung der Sowjetunion.
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Der hier abgedruckte Verfassungsentwurf Sacharows ist in mehrfacher Hinsicht ein bemerkenswertes Dokument. Zum einen steht er am Ende der politischen Tätigkeit eines Mannes, der über zwei Jahrzehnte hindurch, zusammen mit einigen hundert Bürgerrechtlern, eine andere, bessere Sowjetunion möglich erscheinen ließ und sie zugleich vor der Weltöffentlichkeit repräsentierte; es handelt sich zweifellos um die wichtigste Arbeit, mit der sich Sacharow in den Monaten vor seinem Tode beschäftigte. Bis in die letzten Lebensstunden hinein hat er noch Änderungen und Ergänzungen vorgenommen. Eine von ihm autorisierte Schlußfassung gibt es nicht; der Entwurf blieb unvollendet, wenngleich man ihn kaum als Fragment bezeichnen kann. So liegen mehrere Varianten vor, die sich insgesamt zwar nicht entscheidend, in einigen Details aber keineswegs nur geringfügig unterscheiden. Von Sacharows Frau, Elena Bonner, wurde der in der Zeitung „Posizija“ abgedruckte Text autorisiert. Zum anderen kann der Verfassungsentwurf auf ein gesteigertes Interesse rechnen, weil die UdSSR heute die kritischste Phase ihrer Verfassungsgeschichte durchmacht und weil ihre Zukunft als Staatswesen völlig offen ist. Es ergibt sich die reizvolle Frage: Wie verhält sich die reale Verfassungsentwicklung zu der Verfassungskonzeption, die der nach allen Niederlagen letztlich siegreiche Systemkritiker Sacharow seinem Lande vorschlägt?

Sacharow begann die Arbeit an seinem Entwurf, nachdem der Kongreß der Volksdeputierten der UdSSR am 9. Juni 1989 eine Kommission zur Ausarbeitung einer neuen Unionsverfassung gebildet hatte und Sacharow als einer von 107 Abgeordneten deren Mitglied geworden war. Es entsprach seinem Selbstverständnis als Parlamentarier, daß er sich nicht darauf beschränken wollte, den Verfassungsentwurf irgendeiner Unter- oder Expertenkommission im Nachhinein zu kritisieren, zu verwerfen oder mit Änderungen zu billigen. Vielmehr faßte er seine Kommissionsmitgliedschaft als Mandat für einen eigenständigen Lösungsvorschlag auf. Sicherlich stand Sacharow von berufswegen eher in Distanz zu einer solchen Aufgabe. Indes dürfte er durch seine langjährige leidvolle, aber erfahrungsreiche politische Praxis als Bürgerrechtler und als Vordenker grundlegender gesellschafts- und systempolitischer Reformen tatsächlich auf diese neue Funktion wesentlich besser vorbereitet gewesen sein als die große Mehrzahl seiner der politischen und wissenschaftlichen Nomenklatura angehörenden Kollegen. Auf jeden Fall besaß Sacharow wie – wenn überhaupt – wohl nur ganz wenige Volksdeputierte eine eigenständige Vorstellung von der künftigen Struktur der UdSSR und ihrer Einfügung in die Weltgemeinschaft. Dies beweist sein Entwurf, und zwar insbesondere dadurch, daß sich in ihm einige der Hauptideen und Konstanten im Denken Sacharows seit seinem berühmten „Memorandum“ von 1968 widerspiegeln. Der Entwurf zeigt ferner, daß Sacharow früher und realistischer als viele andere in den drei systempolitischen Kernfragen des Landes – Beseitigung der Parteiherrschaft, Rehabilitierung des Privateigentums, Neugründung der Union – Positionen bezogen hat, auf die nun nach langem Zögern und Widerstreben auch die Zentrumsfraktion um Gorbatschow eingeschwenkt ist, allerdings erst, nachdem ihr der innere Zerfall der KPdSU, der Zusammenbruch der Wirtschaft und der Selbständigkeitsdrang nun auch der slawischen Unionsrepubliken praktisch keine Wahl mehr gelassen hatten. Dieses Einschwenken ist denn auch mit vielen Vorbehalten, Zweideutigkeiten und Undeutlichkeiten behaftet, seine Ernsthaftigkeit noch nicht wirklich bewiesen.

Noch auf dem ersten Kongreß der Volksdeputierten hatte Sacharow die Initiative dazu ergriffen, schon vor der Ausarbeitung einer neuen Verfassung einige grundlegende Änderungen am Regierungssystem und Staatsaufbau vornehmen zu lassen, nämlich mit seinem Vorschlag vom 9. Juni 1989, ein von ihm entworfenes „Dekret über die Staatsmacht“ (Dekret o vlasti) zu diskutieren und zu verabschieden. Aus Zeitgründen (Vorsitzender Gorbatschow: „Bitte, Andrej Dmitrijewitsch, fünf Minuten.“) hatte er den Wortlaut allerdings nur verkürzt vortragen können (vollständiger Text in: Glasnosť, Nr. 30, Moskau, Juni 1989, S. 1f.; deutsch in: Osteuropa, 11/12, 1989, S. 1018). Sacharow hatte darin an erster Stelle die Aufhebung des Artikels 6 der Verfassung, also die Abschaffung der Parteiherrschaft, gefordert, ferner die Abhängigkeit der Geltung der Unionsgesetze von der Zustimmung der Republiken, die Erhebung des Kongresses zum (alleinigen) Gesetzgeber, die Entmachtung des KGB usw. Die Einbringung des Dekretentwurfs stellte also den Versuch dar, den neugebildeten Sowjetkongreß zusammen mit den Republiken anstelle der zentralen partei-staatlichen Exekutive zum politischen Gravitationszentrum des Landes zu machen. Schon wegen der Mehrheitsverhältnisse auf dem Kongreß mußte diese Initiative von vornherein aussichtslos bleiben. Davon abgesehen, erscheint der Entwurf in technischer Hinsicht reichlich naiv; jedenfalls waren die rechtliche Qualität des Dekrets und sein Verhältnis zur geltenden Verfassung unklar, und wenig überzeugend war es, den monströsen und so leicht manipulierbaren Kongreß zum Parlament machen zu wollen. Sacharow hat aber – wie sein Verfassungsentwurf zeigt – an jenen verfassungspolitischen Forderungen im wesentlichen festgehalten und sie im übrigen präzisiert.

Sacharows Konzept

Sacharow hat seinen Verfassungsentwurf nicht formal in Abschnitte bzw. Kapitel gegliedert. Dennoch fügen sich die Punkte (Artikel) inhaltlich in einen Aufbau, dem ein bestimmtes Konzept zugrundeliegt:

  1. Artikel 1 bis 4 bezeichnen die Ziele und Aufgaben, welche der UdSSR gesetzt sein sollen und deren Verfolgung ihre harmonische Einfügung in die Weltgemeinschaft der Staaten garantieren soll;
  2. Artikel 5 bis 11 bzw. 12 betreffen die Rechtsstellung des Individuums, seine Rechte als Mensch und Bürger;
  3. Artikel 12 bzw. 13 bis 14 bzw. 15 enthalten die Grundsätze einer an Friedenssicherung und Verteidigung orientierten sowjetischen Außen- und Sicherheitspolitik;
  4. Artikel 15 bzw. 16 bis 26 bestimmen die die Rechtsgrundlagen der Republiken, ihre Beziehungen untereinander sowie die zur Union;
  5. Artikel 27 bis 36 regeln die Verfassungsorgane der Union;
  6. Artikel 37 bis 45 entwerfen die Grundzüge einer Wirtschaftsverfassung unter Einschluß der Faktoren „Arbeit“ und „Umweltschutz“.

Hervorstechend an dem Entwurf ist der hohe Anteil an Staatszielbestimmungen, Prinzipien und Zweckbindungen der materialen Politik. Diese Grundsätze nehmen ihren Ausgang von den menschheitlichen Friedens- und Weltordnungsvorstellungen. die für den den Weg des Atomphysikers Sacharow in die Politik entscheidend geworden sind. Sie werden beherrscht von der Sorge um das „Überleben der Menscheit” (Art. 4 Satz 2), „um „die Wahrung der äußeren und inneren Existenzbedingungen der Menschheit und des Lebens auf der Erde insgesamt” (Art. 4 Satz 1). Dieser „menschheitliche” Zug des Verfassungsentwurfs unterscheidet sich gänzlich von der menschheitsbeglückenden Programmatik der bisherigen Sowjetverfassungen im Zeichen von Weltrevolution und „Sieg des Kommunismus“. Hier geht es – umgekehrt – darum, Anschluß zu finden an „die moralischen und kulturellen Traditionen Europas und Asiens sowie der ganzen Menschheit“ (Art. 3); jeder „Weltbekehrung“ wird eine Absage erteilt (Art 12 bzw. 13). Allerdings weist auch Sacharow der UdSSR kraft ihrer Verfassung eine menschheitliche „Mission“ zu, nämlich hinzuarbeiten auf die „Annäherung bzw. Konvergenz des sozialistischen und des kapitalistischen Systems“ und – langfristig – auf die Gründung einer „Weltregierung“ (Art. 4). Das genossene Übermaß an ideologischer Zukunftsprogrammatik hat Sacharow, wie man sieht, nicht davon abhalten können, auch seine Verfassungsvorstellungen durch eine politische Vision  und „konkrete Utopie“ zu krönen. Er erweist sich damit gewiß als Sproß vom Stamm der russischen Intelligenzia, knüpft aber hier wieder an ihre liberal-soziale Traditionslinie an, indem er in seinem Land den Weg der Wiedereinführung in die eine, humane Weltzivilisation weist.

Mit innerer Folgerichtigkeit fährt der Entwurf mit der Deklaration und Garantie der Menschen- und Bürgerrechte fort, wobei ausdrücklich auf die enschlägigen volkerrechtlichen Verpflichtungen der UdSSR Bezug genommen wird. Die sozio-ökonomischen Rechte ignoriert Sacharow nicht, aber er räumt ihnen – im Unterschied zur marxistisch-leninistischen Grundrechtslehre – einen Platz am Ende des Grundrechtskataloges ein, wo sie wegen des logischen Vorranges der Freiheitsrechte auch hingehören.

Das Eigentumsrecht erwähnt der Entwurf nicht an dieser Stelle, sondern im Rahmen der Aussagen zur Wirtschaftsordnung. Ohne Umschweife, mit einer für sowjetische Ohren noch immer weithin provokativ empfundenen Offenheit, heißt es da: „Die Menge des einer einzigen Person gehörenden Privateigentums, welches hergestellt, erworben oder ererbt worden ist, ohne daß dabei gegen Gesetze verstoßen wurde, wird durch nichts begrenzt. Das uneingeschränkte Recht, in Privatbesitz befindliche Produktionsmittel und Produktionswerkzeuge, Gebrauchsgegenstände, Banknoten und Aktien sowie Häuser und Wohnungen zu erben, wird ebenso wie das uneingeschränkte Recht garantiert, in letzteren Erben wohnen zu lassen.“ (Art. 39 bzw. 40) Damit stellt der Entwurf die Weichen für einen mehr oder weniger großen Privatsektor in der Wirtschaft, für eine gemischte Wirtschaftsordnung.

Bedenkt man, welchen Rang die Menschenrechte in den Schriften Sacharows eingenommen haben und wie viele Jahre seines Lebens ohne Rücksicht auf Gesundheit und persönliche Sicherheit er für ihre Durchsetzung gearbeitet hat, dann mag es überraschen, wie knapp er diesen Gegenstand in seinem Entwurf behandelt. Gleichwohl hat er alles Wesentliche berücksichtigt, nicht zuletzt mit der elementaren Eingangsformel des Artikels 5, Satz 1, den Sacharow unter leichter Veränderung der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung entlehnt hat: „Alle Menschen haben das Recht auf Leben, Freiheit und Glück.“ Recht auf Glück soll dabei allerdings nicht mehr staatlich zugeteilte, auferlegte, beschnittene oder kleinlich kontrollierte Bedürfnisbefriedigung bedeuten, sondern – im Gegenteil: „Jeder hat das Recht, nach eigenem Dafürhalten über seine eigene physische und geistige Lebensfähigkeit zu bestimmen.“ (Art. 40 bzw. 41)

Es unterliegt keinem Zweifel, daß die materialen Bestimmungen des Verfassungsentwurfs einen völligen Systemwandel der UdSSR intendieren und, würden sie verbindlich, dieses Land in die westliche Wertegemeinschaft und Verfassungstradition hineinführen würden. Daher wirkt es wie ein Restposten aus einer anderen Verfassungslage, wenn der Entwurf gleichwohl, so, als ob jener Wandel nicht eintrete, von dem Fortbestand eines „sozialistischen“ und eines „kapitalistischen“ Systems ausgeht und der Überwindung ihrer Trennung politische Priorität einräumt. Eine Sowjetverfassung nach dem Muster Sacharows würde diesem Systemgegensatz endgültig die Grundlage entziehen. Auch heute schon ist von jenem „sozialistischen System“ nicht mehr viel übrig geblieben, und bald werden wohl auch in der UdSSR nur noch Trümmer daran erinnern.

„Union der Sowjetrepubliken Europas und Asiens“

Sacharows Grundlage und Ausgangspunkt für den Aufbau der Union ist das Selbstbestimmungsrecht der Nationen und Republiken (Art. 15 bzw. 16). Der Entwurf geht von einem Unionsvertrag aus, sagt allerdings nichts über dessen Abschluß, sondern regelt nur das Beitritts-, Austritts- und Ausschlußverfahren (Art. 17 bzw. 18ff.). Unklar bleibt, ob der Unionsvertrag auf dem „Gründungskongreß“ (Art. 17 bzw. 18 Abs. 3) selbständig geschlossen wird oder ob er mit der Unionsverfassung zusammen eine rechtliche Einheit bildet oder ob Vertrag und Verfassung überhaupt identisch sein sollen, Fragen, die auch in der gegenwärtig auf Hochtouren laufenden Diskussion um die Erneuerung des Unionsvertrages noch nicht geklärt sind. Den Namen „Union der Sowjetrepubliken Europas und Asiens“ hat Sacharow einem der Vorentwürfe zur Unionsverfassung von 1923/24 entnommen. Er ist geeignet, die asiatische Dimension des Staatswesens verstärkt ins Bewußtsein zu heben, wodurch der politische Gehalt der Verfassung jedoch in keiner Weise berührt wird: er ist ganz und gar den Maximen und Prinzipien der abendländischen Aufklärung verpflichtet: Freiheit, Pluralismus, Toleranz (Art. 7).

Der Entwurf geht von der Priorität der Republiken als den Gründungsmitgliedern der Union aus. Bei ihnen soll grundsätzlich die Fülle der Staatsgewalt und der Sachkompetenzen liegen. Kraft der Verfassung fallen in die Zuständigkeit der Union: Äußeres, Verteidigung, das einheitliche Währungs-, das Transport- und das Kommunikationssystem (Art. 19 bzw. 20). Aber selbst auf diesen Gebieten sollen den Republiken eigene Befugnisse verbleiben. Jede Republik ist berechtigt, der Union weitere Kompetenzen zu übertragen, und zwar in demselben Verfahren wie der Beitritt zur Union, nämlich durch einen Sondervertrag („Protokoll“) und ein Republikreferendum. Die Union besitzt kein selbständiges Steuererhebungsrecht; sie soll – wie das (zweite) deutsche Kaiserreich – auf Matrikularbeiträge der Republiken an den Unionshaushalt angewiesen sein.

Angesicht der aktuellen Diskussion ist bemerkenswert, daß Sacharow an eine Aufteilung der Russischen Föderation (RSFSR) in eine Republik Rußland und weitere nationale Republiken gedacht hat (Art. 25 bzw. 26). Darüber hinaus sieht der Entwurf vor, das auch in jenem verkleinerten Zustand bare Rußland in vier relativ selbständige „Wirtschaftsgebiete“ aufzugliedern: europäisches Rußland, Ural, Westsibirien, Ostsibirien. Mit solchen Festlegungen ist Sacharow selbst den heutigen Diskussionen noch weit voraus. Gleiches gilt für die Hauptstadtfrage, in welcher der Entwurf die Trennung von Unions- und Republikhauptstadt bestimmt und damit entweder die Verlegung des Unionssitzes aus Moskau in die Provinz oder aber die Verlegung der Hauptstadt Rußlands von Moskau nach Leningrad (Piterburg), Swerdlowsk (Jekaterinburg) oder an einen dritten Ort erzwingt, worüber schon seit einiger Zeit diskutiert wird.

Bedenkt man, wie eng, nämlich auf elementare Einheitsinteressen, der Entwurf die Kompetenzen der Union beschränkt, leuchtet es kaum ein, daß die Unionsgesetze auf den Territorien der Republiken nur mit der ausdrücklichen Zustimmung ihrer Gesetzgebungsorgane Wirksamkeit erlangen sollen (Art. 23). Die im Ansatz bundestaatliche Kompetenzverteilung wird dadurch im Sinne einer konföderalen Lösung des staatlichen Verhältnisses abgeschwächt. Eine solche Schwächung des Bundesstaatsprinzips zugunsten einer Konföderation ist ferner deswegen ungereimt, weil das Unionsparlament, also der Kongreß der Volksdeputierten, nach dem Entwurf aus allgemeinen direkten Wahlen auf der Basis territorialer bzw. national-territorialer Wahlkreise hervorgehen soll und infolgedessen über eine unmittelbare demokratische Legitimation von seiten des im Wahlakt einheitlich auftretenden „Staatsvolkes der UdSSR“ verfügen würde. Eine solche Legitimation und darüber hinaus die Funktion eines Unionsparlaments würden jedoch leerlaufen, wenn dessen Beschlüsse nicht mehr als Empfehlungen wären. Der Satz „Der Kongreß [. . .] hat die höchste gesetzgeberische Macht im Land“ (Art. 30 bzw. 31) klingt daher hohl. Es zeigt sich: Die Föderationsproblematik ist in Sacharows Entwurf ungenügend durchdacht.

Unter den Voraussetzungen einer schwach entwickelten Bundesstaatlichkeit gleicht auch das von Sacharow mit relativ starken Kompetenzen gegenüber den anderen Unionsorganen ausgestattete Amt des Präsidenten der Union eher einem Papiertiger. Gleichwohl – und darin liegt eine eigentümliche Ironie des Schicksals –, die reale Verfassungsentwicklung der UdSSR hat sich im Jahre 1990 nach der Installierung des Präsidentenamtes einerseits und der Serie republikanischer Souveränitätserklärungen andererseits in verblüffender Weise der Verfassungsskizze Sacharows angenähert. Von „Verfassung“ läßt sich heute freilich kaum sprechen, eher von einem politischen Übergangs- und Durchgangsstadium entweder zu einem neuen Zentralismus infolge eines Staatsstreiches oder aber, was wahrscheinlicher ist, zu einem zerbrechlichen föderal- konföderalen Staatsverband, der weniger durch politischen Konsens als vielmehr durch die Schwäche und Erschöpfung seiner Teile zusammengehalten wird.

„. . . nur moralische Kriterien“

„Ich bin kein professioneller Politiker; darauf beruht es vielleicht, daß mich die Resultate meines Handelns quälen. Ich bin geneigt anzunehmen, daß nur moralische Kriterien in Verbindung mit gedanklicher Unvoreingenommenheit imstande sind, für diese komplizierten und widersprüchlichen Probleme eine Art Kompaß zu entwickeln. Ich enthalte mich konkreter Prognosen, aber wie schon immer, so glaube ich auch heute an die Kraft des menschlichen Verstandes und Geistes.“ Sacharow ist dieser Grundeinstellung, die er am Ende seiner 1981 in Gorkij verfaßten kurzen Autobiographie formuliert hat (vgl. Für Sacharow. Texte aus Rußland zum 60. Geburtstag, München 1981, S. 20), auch mit seinem Verfassungsentwurf treu geblieben, denn er hat sich nicht auf Denkschriften, Offene Briefe und Petitionen beschränkt, sondern – für eine kurze Zeitspanne vom Schicksal in die Lage des Gesetz- und Verfassungsgebers versetzt – den Versuch unternommen, einen unmittelbaren Beitrag dazu zu leisten, daß die praktische Aufgabe, den Völkern der Sowjetunion eine tragfähige, dauerhafte und fortschrittliche politische Ordnung zu verschaffen, erfolgreich gelöst werde. Ein greifbarer Erfolg war ihm nicht vergönnt. Der konservativen Mehrheit im Volkskongreß und Obersten Sowjet der UdSSR unter Einschluß ihres damaligen Präsidenten kostete es bereits Mühe und Überwindung, die schonungslosen Bemerkungen oder weit vorauseilenden Gedanken Sacharows wenigstens in Ruhe anzuhören. Der Verfassungsentwurf ist unvollendet geblieben, aber auch die Arbeit der Verfassungskommission macht keine erkennbaren Fortschritte. Dies könnte zum Symbol werden, denn vielleicht wird es gar nicht mehr zu einer neuen Unionsverfassung kommen, da die Zeit dieses Staatswesens abgelaufen ist?

(Abgeschlossen: Ende Juli 1990)

Erstveröffentlichung: Osteuropa,  2 / 1991,  S. 134-139

 

Schlagwörter: Andrej Sacharow · Otto Luchterhandt · Russland · Sowjetunion · Verfassung