„Das Unverständnis für die ideologischen Wurzeln dieses Krieges ist frappierend“

von | 26. Aug. 2025 | Aktuell, Interview, Sacharow-Stipendium

Die russische Historikern Evgenia Lezina (Ljosina) ist im akademischen Jahr 2024/25 Sacharow-Stipendiatin. Im Interview erläutert die KGB-Expertin, die seit 2018 am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam (ZZF) forscht, ihre Sicht auf den Krieg gegen die Ukraine und seine Ursachen. Und kommt zu interessanten Schlussfolgerungen.
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Frage: Welche Bedeutung hat die Wissenschaft in Kriegszeiten?

Man könnte argumentieren, dass alle derzeitigen bewaffnete Konflikt zumindest teilweise eine Folge mangelhafter intellektueller Vorhersagen sind, vor allem in den Geisteswissenschaften. Wissenschaftler und Intellektuelle sind am besten in der Lage, unbequeme Wahrheiten durch kritisches Denken, rigorose Forschung und öffentliche Debatten zu erkennen und anzusprechen. Zwar lässt sich natürlich nicht mit Sicherheit sagen, ob Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine hätte verhindert werden können, doch das Unverständnis für die ideologischen und kulturellen Wurzeln dieses Krieges ist frappierend.

Eine Frage, die mich in den letzten Jahren beschäftigt hat und die die Grundlage für mein neues Buchprojekt bildet, ist, warum die russische Bevölkerung so empfänglich für die staatliche Propaganda war, die den Ukrainern „Nazismus“ und „Faschismus“ vorwirft. Die Kernpunkte dieser Propaganda – dass die Ukraine kein Recht auf Unabhängigkeit habe und dass national gesinnte Eliten die Interessen der ukrainischen Mehrheit verraten würden, indem sie angeblich „westlichen Herren” dienten – wurden vor Jahrzehnten in den ideologischen Tiefen der sowjetischen Geheimpolizei entwickelt. Diese Thesen zogen sich wie ein roter Faden durch die antinationalistischen Initiativen des KGB und der Partei, die sich eines beeindruckenden Arsenals an ideologischen Motiven und operativen Instrumenten bedienten.

Bereits Mitte der 1990er Jahre griffen Kreml-Vertreter auf antifaschistische Rhetorik zurück, die die sowjetischen Behörden stets bevorzugt hatten, um ihre Gegner zu diskreditieren. In der Folge kehrte ein negatives Bild von „ukrainischen Nationalisten“, das bis in die Zeit des russischen Imperiums zurückreicht, aber insbesondere in der Sowjetunion artikuliert wurde, in die Öffentlichkeit zurück und wurde nach 2014 zum Eckpfeiler der antiukrainischen Propaganda. Diese Narrative sind auf fruchtbaren Boden gefallen, wie die zahlreichen YouTube-Kommentare zu Filmen aus der Sowjetzeit zeigen, deren Ideen aus dem russischen Staatsfernsehen stammen.

Welche Rolle spielt Geschichte im heutigen politischen Leben?

Russlands Krieg gegen die Ukraine und seine Rechtfertigung sind untrennbar damit verbunden, wie die russische Regierung und die Medien Geschichte nutzen, um ihre Agenda voranzutreiben. In seiner Erinnerungspolitik greift der Kreml auf eine als „Spiegelbeschuldigung“ bekannte Taktik zurück, bei der der Täter Zielgruppen als existenzielle Bedrohung darstellt und sie als Drahtzieher genau der Gräueltaten hinstellt, die er selbst zu begehen beabsichtigt. Während sie Nachbarstaaten und den Westen ständig der Geschichtsverfälschung bezichtigen, betreiben die russischen Behörden seit Jahren Mythenbildung, Lügen und Verzerrungen. Das eigentliche Ziel des russischen Staates bei der Bekämpfung historischer Verfälschungen ist es, jeden Drang zur kritischen Interpretation der Vergangenheit zu unterdrücken und Kritik an der sowjetischen Führung sowie die Verurteilung sowjetischer Verbrechen zu verhindern. In diesem Zusammenhang nutzt der Kreml auch geschickt das Bild Stalins, um willkürliche staatliche Kontrolle, Großmacht-Expansionismus und Angst schürende staatliche Politik zu legitimieren.

Die Kehrseite der Nutzung von Propaganda und politischer Macht zur Förderung der offiziellen Politik ist die systematische Blockade der Öffnung von Archiven und der Offenlegung von Informationen über die Sowjetzeit. Das Gegenmittel zu dieser Geschichtspolitik, die, wie wir gesehen haben, schreckliche gewaltsame Folgen hat, ist ein Ansatz, der auf einer kritischen Analyse der Vergangenheit in der Öffentlichkeit, der Wissenschaft und in der Bildung sowie auf der vollständigen Öffnung der Archive basiert. Meiner Ansicht nach kann dieser Ansatz nur dann nachhaltigen Erfolg haben, wenn die Verantwortlichen auch strafrechtlich zur Rechenschaft gezogen werden.

Welche historische Bedeutung hat Sacharow Ihrer Meinung nach für Russland und die Welt?

Meine wissenschaftlichen Interessen liegen unter anderem im Bereich der rechtlichen und moralischen Verantwortung für vergangene Verbrechen bei der Schaffung neuer Gesellschaftsordnungen auf der Grundlage neuer rechtlicher und ethischer Prinzipien. In diesem Zusammenhang tritt Andrej Sacharow als Figur mit starker symbolischer Bedeutung hervor. Seine tiefgreifende Wandlung vom Architekten der Wasserstoffbombe zum Verfechter der Menschenrechte und der nuklearen Abrüstung liest sich wie eine Offenbarung. Seine Lebensentscheidungen waren ein Beispiel für Metanoia, das ist ein Bruch mit der Vergangenheit und Widerstand gegen den Status quo.

„Sacharow starb zu früh“

Leider haben Sacharow und andere Aktivisten – darunter Memorial – sich in der späten Perestroika-Ära nicht hinreichend eingesetzt für eine effiziente Übergangsjustiz, eine Bestrafung für sowjetisches Unrecht und für die Entmachtung der an Repressionen Beteiligten. Stattdessen haben sie sich für politische Bildung und Erinnerung an die Opfer stark gemacht. Sacharow starb zu früh und hätte seine Haltung in dieser Frage möglicherweise geändert, wenn er die Auflösung der Sowjetunion 1991 noch erlebt hätte.

Ein besonderes Merkmal seines Vermächtnisses ist seine klare Erkenntnis, dass politisches Handeln wichtig ist und dass Politik Konzepte und eine Zukunftsvision braucht – etwas, das in Russland traditionell eher Mangelware ist. Das unterscheidet Sacharow von anderen zivilgesellschaftlichen und politischen Persönlichkeiten der späten Sowjetzeit und der postsowjetischen Geschichte Russlands und macht ihn zu einem bedeutenden politischen Denker, zu einer moralischen Autorität und zu einem Visionär.

Pressemitteilung zum Stipendium für Evgenia Lezina

Evgenia Lezina auf der Homepage des ZZF Potsdam

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Die Stipendien werden vom Auswärtigen Amt im Rahmen des Projekts „Wege zur Aufarbeitung von Krieg und Diktatur“ gefördert, das von der Deutschen Sacharow Gesellschaft umgesetzt wird.

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