„Größer als man selbst sein und besser handeln, als man ist“

von | 24. Juli 2024 | Aktuell, Sacharow-Stipendium

Die russische Philosophin Tatiana Levina ist die dritte Wissenschaftlerin, die ein Andrej-Sacharow-Stipendium für geistige Freiheit erhalten hat. Levina promovierte 2007 zum Thema „Anthropologie des Kinos“ an der Moskauer Lomonossow-Universität. Bis 2020 lehrte sie an der Higher School of Economics (HSE) in der russischen Hauptstadt, unter anderem zum Thema Frauen in Philiosophie und Politik. Seit 2021 ist sie in Deutschland, wo sie zunächst am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen wirkte. Im Sommersemester 2024 ist sie als Sacharow-Stipendiatin an der Bochumer Ruhr-Universität. .

Frage: Welche Relevanz hat Wissenschaft in Kriegszeiten?

Was kann ein Wissenschaftler, ein Philosoph, konkret ich, während eines Krieges tun? Zunächst – meine Verantwortung annehmen für den Teil der Realität, den ich unterstützen und weiterentwickeln kann. Das ist nicht einfach. Wir alle müssen das Trauma des Krieges überwinden – uns unseren Kolleginnen in der Ukraine zuwenden, von denen viele ihr Leben riskieren und andere das Land verlassen mussten. Wir müssen die Geschichte der Ukraine, Europas und Russlands neu verstehen und uns mit den Geflüchteten und Migranten auseinandersetzen.

Die Herausforderung für die Wissenschaft im Jahr 2024 sehe ich darin, neue Ansichten in unseren Disziplinen zu suchen. Wir müssen herausfinden, wie es zu dem Krieg kommen konnte und was man hätte tun müssen, um ihn zu vermeiden. Und was können wir jetzt tun? Einen Weg sehe ich darin, demokratische Ideen wie Inklusion und Vielfalt, bzw. Freundschaft und Solidarität zu fördern.

 

Interview mit Levina im YouTube-Kanal Land und Welt (Russisch)

Die Aufgaben und Ziele wissenschaftlicher Tätigkeit ändern sich im 21. Jahrhundert. Wissenschaft ist nicht mehr von sich aus universell und für die Menschheit. Wir brauchen eine inkludierende und attraktive Wissenschaft, die unterschiedlichste soziale Gruppen beschreibt und untersucht. Darin sehe ich auch die Verbindung zur Tätigkeit sowjetischer Dissidenten, die ich in meinem Stipendium-Projekt untersuche.

Welche Bedeutung hat Andrej Sacharow für die Wissenschaft und für Sie persönlich?

Sacharows Bedeutung für die Wissenschaft hängt eng mit seiner Bedeutung für die Gesellschaft zusammen. Zum Ende der 1950er Jahre betrachtete er die von ihm entwickelte Wasserstoffbombe nicht mehr bloß als Faktor für die weltweite Machtbalance, sondern als Ursache für eine drohende ökologische Katastrophe. Er wandte sich zunehmend der Menschenrechtsarbeit zu. Sein Politikverständnis beruhte auf der Erkenntnis, dass nicht politische Hierarchien, sondern die Bürger des Landes Politik machen.

Welche Merkmale Sacharows kann ich diesem Bild hinzufügen? Die Vielfalt der Interessen und Themen, die er in seiner Menschenrechtsarbeit verfolgte, sowie seine Philanthropie. Nach dem Tod seiner ersten Frau, Klawdia Wichirjewa, spendete er seine relativ großen Ersparnisse für die Behandlung von Krebspatienten. Natürlich teile ich persönlich Sacharows Werte. Er hat einmal gesagt: „Mein Schicksal war größer als meine Persönlichkeit“. Ich glaube, das ist das Credo eines wahren Wissenschaftlers – größer als man selbst zu sein und besser zu handeln, als man ist.

Was bedeutet die Verleihung des Sacharow-Stipendiums für Sie?

Ich bin der DSG sehr dankbar für dieses Stipendium und freue mich darauf, mich in meiner Forschung an den Idealen Andrei Sacharows zu orientieren. Ich beschäftige mich mit zu Dissidenten gewordenen Philosophen, speziell mit der Philosophin und Menschenrechtlerin Lina Tumanowa. Aus der Philosophie können sich viele Formen des Widerstands gegen den Totalitarismus entwickeln. Dieses Thema griff Tumanowa auf, als sie sich parallel mit Samisdat beschäftigte und Solidaritätsbriefe für politische Gefangene und verfolgte Dissidenten schrieb, darunter auch Andrej Sacharow.

Mir ist es wichtig, mich auf die wenig untersuchte Rolle von Frauen in der Dissidentenbewegung zu konzentrieren. Das Stipendium gibt mir die einmalige Gelegenheit, das Archiv der Dissidentenbewegung in der Forschungsstelle Osteuropa der Universität Bremen zu besuchen und die Briefe dieser bemerkenswerten starken Frauen in Händen zu halten. Ich bin auch der Ruhr-Universität Bochum und insbesondere dem Lotman Institut dankbar für das inspirierende Umfeld. Sie geben mir die großartige Möglichkeit, meine Arbeit in einer Umgebung zu diskutieren, wie ich sie mir erträumt habe und erlauben es mir, neue Kontakte zu Kolleginnen und Kollegen in Deutschland und Europa knüpfen.

 

Biographie von Tatiana Levina bei northwestern.edu (englisch)

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Die Andrej-Sacharow-Stipendien werden vom Auswärtigen Amt im Rahmen des Projekts „Wege zur Aufarbeitung von Krieg und Diktatur“ gefördert, das von der Deutschen Sacharow Gesellschaft zusammen mit dem Medienprojekt „Strana i mir“ (Land und Welt) umgesetzt wird.

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