Ksenia Krimer hat in den USA, Budapest und Jerusalem Judaistik und Geschichte studiert. 2011 zog sie in ihre Heimatstadt Moskau zurück, wo sie als freie Historikerin und Übersetzerin arbeitete. Seit 2022 forscht Krimer als Gastwissenschaftlerin am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung (ZZF) Potsdam, seit dem Wintersemester 2023 als Sacharow-Stipendiatin.
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Frage: Welche Relevanz hat Wissenschaft in Kriegszeiten?
Kriege werden heutzutage gerne mit Geschichte gerechtfertigt, genauer gesagt, mit vermeintlich historischen Ungerechtigkeiten. Russlands Krieg gegen die Ukraine ist da keine Ausnahme. Das Putin-Regime hat schon lange die Geschichte missbraucht und geschönt, um Legitimität zu erlangen und kollektive Identität zu festigen, wobei die Grenzen zwischen Fakten und Fiktion, Realität und Darstellung immer wieder verwischt wurden. Der jetzige Krieg wird nicht nur auf den Schlachtfeldern der Ukraine ausgetragen, sondern auch in den Köpfen und Herzen derjenigen, die ihn aus der Ferne verfolgen und deren Urteil oft von einer Flut von Mythen, Verzerrungen und Verfälschungen beeinflusst wird. Diese quasi-historische Sichtweise ist sehr emotional und vereinfachend und verhindert eine kritische und differenzierte Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und Gegenwart.
Angesichts der verwirrenden und widersprüchlichen Stimmen, die oft ein Gefühl der Frustration hervorrufen (etwa „wir werden die Wahrheit nie erfahren“), ist es ganz wichtig, dass professionelle Historiker kontrafaktische Pseudo-Geschichten bekämpfen und mit der Gesellschaft insgesamt kommunizieren, indem sie Nuance, Komplexität und kritische Reflexion anbieten. Ich bin zutiefst beeindruckt von der aktiven Medienarbeit meiner deutschen Kolleginnen und Kollegen am ZZF-Potsdam, mit der sie seit Februar 2022 die vielen falschen Vorstellungen und Mythen, die den deutschen Diskurs über Russland und die Ukraine prägen, zerstreut haben. Ich selbst hatte das große Glück, für die FAS, die NZZ, die Deutsche Welle und andere Medien schreiben und kommentieren zu dürfen.
Welche Bedeutung hat Andrej Sacharow für die Wissenschaft und für Sie persönlich?
Andrej Sacharow war ein wahnsinnig produktiver und komplexer Denker, der seiner Zeit weit voraus war. Er war in der Lage, global und universell zu denken, nicht in restriktiven partikularistischen Gegensätzen, und das auf vielen Ebenen gleichzeitig. Er hat die wichtigsten Herausforderungen, vor denen wir heute stehen, vorweggenommen und sich mit ihnen auseinandergesetzt: die Krise globaler Institutionen, die Klimakrise und die Gefahr eines Atomkriegs. Sein persönliches Engagement reichte von den Umweltproblemen am Baikalsee über den Einsatz für die Krimtataren bis hin zur Spende seiner gesamten Ersparnisse für den Bau eines Krebsbehandlungszentrums.
Für mich ist Sacharow jedoch in erster Linie eine lebendige Verkörperung von Würde, ethischer Integrität und Humanismus, die heute leider genauso selten sind wie zu seiner Zeit, wenn nicht sogar noch seltener. Er ist jemand, der sich bewusst gegen ein Leben in Privilegien und Bequemlichkeit und für intellektuelle Freiheit und moralische Integrität entschieden hat – eine Entscheidung, die angesichts des heutigen Klimas von Konformität, Kompromissen und Anpassung nicht sehr beliebt ist. Ich erinnere mich, wie ich als Kind im Fernsehen Sacharows Ansprache vor dem Ersten Volksdeputiertenkongress verfolgte, in der er die sowjetischen Gräueltaten in Afghanistan anprangerte, während im Saal ein Sturm von Johlen und „Schande“-Rufen losbrach, eine einsame, stoische Gestalt, die sich vom Trommelfeuer der Beleidigungen nicht beirren ließ. Meine Großeltern bewahrten ein Foto von Sacharow auf, der es vorzog, sitzen zu bleiben, während der Rest der Abgeordneten aufstand und die sowjetische Hymne sang – ein Bild, das in seiner moralischen Kraft fast ikonisch ist. Meine ganze Familie trotzte den eisigen Temperaturen, um an seiner Beerdigung teilzunehmen, und ich kann nicht umhin, mich zu fragen, was mit den Tausenden von einfachen Menschen geschehen ist, die damals diese moralische Dringlichkeit mit ihnen teilten.
24 Jahre später führt Russland erneut einen verbrecherischen Krieg, und die wenigen mutigen Stimmen, die sich öffentlich dagegenstellen, werden zum Schweigen gebracht, angegriffen, inhaftiert und ins Exil geschickt. In Zeiten wie diesen spüren wir das klaffende Fehlen einer moralischen und intellektuellen Autorität, die verschiedene Teile der Gesellschaft ansprechen und eine Zukunftsvision und einen moralischen Kompass bieten könnte. Der Gedanke, dass Menschenrechte, Frieden, Fortschritt und intellektuelle Freiheit der Schlüssel zu globaler Entwicklung und Sicherheit sind, war für Sacharows Vision von zentraler Bedeutung und muss dringend bekräftigt werden, vor allem, wenn wir sehen, wie diese Ideen von kriegstreiberischen autoritären Regierungen mit Füßen getreten werden.
Was bedeutet die Verleihung des Sacharow-Stipendiums für Sie?
Ich denke, dass viele von uns – insbesondere diejenigen, die Russlands Krieg gegen die Ukraine und Israels Krieg gegen die Hamas aufmerksam verfolgen – ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit und Ausweglosigkeit verspüren. Die Zukunft scheint nicht nur düster zu sein, sie ist überhaupt nicht erkennbar. Es ist ein großes Privileg, in Zeiten wie diesen, Zuflucht und Trost in der akademischen Forschung zu finden, in einem äußerst anregenden und herzlichen Umfeld am Potsdamer Zentrum für Zeitgeschichte, wofür ich meinen lieben Kollegen zu danken habe. Ich hatte das Glück, im Sommer 2022 als Gastwissenschaftlerin ans ZZF zu kommen und bin nun seit einem Jahr Teil des Projekts „Perestroika von unten“. Mein Schwerpunkt liegt auf der Geschichtsschreibung in der späten Sowjetzeit und der Ausformung des postsowjetischen Geschichtsbewusstseins. Ich bin der Deutschen Sacharow-Gesellschaft unendlich dankbar für die Gewährung meines Andrej-Sacharow-Stipendiums, das mir die Fortsetzung meiner Forschungen ermöglicht. Vielen Dank!
Ksenia Krimer auf der Website des Leibniz-Zentrums für Zeithistorische Forschung Potsdam: https://zzf-potsdam.de/de/ksenia-poluektova-krimer-0
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Die Andrej-Sacharow-Stipendien werden vom Auswärtigen Amt im Rahmen des Projekts „Wege zur Aufarbeitung von Krieg und Diktatur“ gefördert, das von der Deutschen Sacharow Gesellschaft zusammen mit dem Medienprojekt „O strane i mire“ (Über Land und Welt) umgesetzt wird.
Foto: privat