Russische Kriegsverbrechen in der Ukraine – eine ungeheure Herausforderung

von | 23. Dez 2022 | Aktuell, Veranstaltung, Video

Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine ist nicht nur eine riesige politische und militärische Herausforderung für den Westen, er hat auch eine enorme juristische Dimension. Denn nur wenn die schrecklichen Kriegsverbrechen der russischen Aggressoren aufgearbeitet werden, bietet sich eine realistische Chance auf Frieden.

 

Weitgehend unbeachtet von der Öffentlichkeit arbeiten bereits jetzt eine ganze Reihe von Expertinnen und Experten innerhalb und außerhalb der Ukraine daran, Kriegsverbrechen zu dokumentieren. Die Deutsche Sacharow Gesellschaft lud Ende November zu einem Online-Gespräch mit einigen von ihnen ein.

Jewhen Sacharow von der ukrainischen Helsinki Human Rights Union stellte die Arbeit der internationalen Initiative „Tribunal for Putin“ vor, die bis Ende November rund 27.000 Verbrechen in ihrer Datenbank dokumentiert hat. Bei knapp der Hälfte davon geht es um unrechtmäßige Gewaltanwendung gegen Zivilisten. Sacharow betonte, dass die ukrainischen Behörden nicht die Kapazität hätten, diese Zahl von Fällen zu bearbeiten.

Und dabei ist das längst nicht alles, wie Moderatorin Tanja Lokschina betonte: Bei einem Besuch in der im Sommer von russischer Besatzung befreiten Region Charkiw sei sie praktisch überall mit neuen Fällen konfrontiert worden: „Man kann in jedem Dorf zwei Wochen verbringen, das ist unermesslich viel Arbeit“, sagte Lokschina, die seit knapp 15 Jahren für Human Rights Watch arbeitet.

Anna Neistat von der Clooney Foundation for Justice erklärte, dass ihre Organisation sich auf wenige Dutzend konkrete Fälle beschränkt, die in Zusammenarbeit mit der ukrainischen Generalstaatsanwaltschaft bearbeitet würden. Neistat betonte, dass darunter auch russische Propagandisten aus Staatsmedien seien. Deren Rolle in den Kriegsverbrechen sei „kolossal“, sagte sie.

Der Völkerrechtler und Kölner Juraprofessor Claus Kreß betonte, dass dieser Krieg eine ungeheure Herausforderung sei, weil mit Russland der Haupttäter eine Atommacht mit ständigem Sitz im UN-Sicherheitsrat sei – dem Gremium, das eigentlich die Hauptverantwortung dafür tragen soll, dass so etwas nicht passiert.

Für die Zukunft der Völkerrechtsordnung sei es aber enorm wichtig, dem Aggressor so entschieden wie möglich zu signalisieren, dass dies nicht hingenommen werde und alle erdenklichen Anstrengungen unternommen werden, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen – „bis hin zum amtierenden russischen Präsidenten“.

Kreß nannte es ermutigend, dass die UN-Vollversammlung bereits drei fundamentale Resolutionen gegen Russland verabschiedet habe (zu Aggression, Annexion und Reparationen), räumte aber ein, dass wegen Moskaus Sitz und Stimme im Sicherheitsrat „das mächtigste Organ“ (des Völkerrechts) blockiert sei. Positiv sei auch, dass derzeit so viele Akteure – etwa Gerichte und Nichtregierungsorganisationen – wie nie zuvor gleichzeitig aktiv bei der Aufarbeitung seien und die Unterstützung durch Drittstaaten präzendenzlos sei.

Kreß erläuterte auch das Hauptargument für ein internationales Kriegsverbrechertribunal. Wegen der Beschränkungen für den internationalen Strafgerichtshof könne nur ein solches Tribunal das Verbrechen der Aggression ahnden – das Kreß „die Ursünde“ nannte, weil das die Entfesselung des Krieges an sich sei. „Eine so eklatante Verletzung dieser fundamentalen Norm, die schwache Staaten schützt, hat es seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr gegeben“, betonte er.

Ob und wann ein solches Tribunal gebildet wird, ist noch völlig unklar. Die größte Herausforderung bleibt erst mal die Masse des vorhandenen Materials. Kreß: „Hauptschwierigkeit wird sein, mit der Fülle von Verdachten sinnvoll koordiniert umzugehen, so dass sie in überschaubarer Zeit gemeinsam abgeurteilt werden können.“ Dazu seien neues Denken und kreative Lösungen gefragt.

Eine Lösung muss laut Kreß das Weltrechtsprinzip sein, das es anderen Staaten ermöglicht, im Ausland begangene Straftaten zu verfolgen. Bislang sei dieses Prinzip etwa in Deutschland vor allem gegen Staaten wie Syrien angewandt worden, die nicht willens seien, gegen Verbrechen in ihrem Land vorzugehen. Es sei aber durchaus möglich, dass andere Länder Verfahren von der Ukraine übernehmen, weil deren Justiz zwar willens aber überlastet sei, meinte Kreß.

 

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Die Diskussion war eine Gemeinschaftsveranstaltung des Youtube-Kanals “O strane i mire” (Über Land und Welt) und der Deutschen Sacharow Gesellschaft, die im Rahmen des Projekts „Dialoge in der Turbulenzzone“ vom Auswärtigen Amt unterstützt wurde.

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