Der tschechische Botschafter Jiří Čistecký, Sergej Lukaschewski (Land und Welt) sowie Uta Gerlant (v.l.)
Bei dem Diskussionsabend, den wir kürzlich anlässlich des 50. Jahrestages der Verleihung des Friedensnobelpreises an Andrej Sacharow veranstaltet haben, hielt unser Vorstandsmitglied Uta Gerlant eine Eröffnungsrede, die wir hier dokumentieren.
.
Sehr geehrte Damen und Herren,
in seiner ersten Reaktion auf die Zuerkennung des Friedensnobelpreises sagte Andrej Sacharow: „Ich hoffe, dass sich das Schicksal der politischen Gefangenen in der UdSSR erleichtern wird, ich hoffe auf eine weltweite politische Amnestie!“[1]
Am Tag der Preisverleihung fand in Vilnius der Prozess gegen Sergej Kowaljow wegen dessen Beteiligung an der Menschenrechtsdokumentation „Chronik der laufenden Ereignisse“ statt. Andrej Sacharow fuhr deshalb nach Vilnius – eine Ausreiseerlaubnis zur Preisverleihung in Oslo war ihm verweigert worden, weil der Atomphysiker als Träger von Staatsgeheimnissen galt. Während an seiner Stelle seine Frau Jelena Bonner seine Nobelpreisrede vortrug und den Preis für ihn entgegennahm, zeigte Andrej Sacharow vor dem Gerichtsgebäude seine Solidarität mit Sergej Kowaljow. Dieser wurde zu sieben Jahren Haft plus fünf Jahren Verbannung verurteilt – ein Strafmaß, wie es heute in Russland wieder gegen Andersdenkende verhängt und oft noch übertroffen wird.
Elf Jahre später – 1986 – wird die Sowjetregierung am Tag der Menschenrechte den Tod des Dissidenten Anatolij Martschenko bekannt geben, der zwei Tage zuvor in Folge eines Hungerstreiks für die Freilassung aller politischen Gefangenen in der Sowjetunion im Gefängnis Tschistopol starb.
Und während wir heute hier zusammen sind, führt Russland seit 2014 Krieg gegen die Ukraine. Mindestens 16.000 ukrainische Gefangene sind in russischer Haft, außerdem mehr als 1.200 russische politische Häftlinge. 20.000 ukrainische Kinder wurden entführt und werden einer Gehirnwäsche unterzogen, um aus ihnen folgsame Russen zu machen.
Folter gehört zum russischen System
Die ukrainischen Gefangenen (Zivilist/innen wie Kriegsgefangene) werden gefoltert – mit Schlägen, Elektroschocks, Waterboarding, Scheinexekutionen, Verstümmelungen. Sie sollen gebrochen werden, alles Ukrainische ausgelöscht.
In Moskau wurde der russische Dichter Artjom Kamardin während einer Durchsuchung seiner Wohnung mit sexualisierter Gewalt gefoltert. Anschließend wurde seine Partnerin im Nachbarzimmer gezwungen, das Foltervideo anzusehen.
Folter gehört heute zum russischen System. Uns allen sind wohl noch die Bilder der öffentlichen Vorführung der Männer in Erinnerung, die des Anschlags auf eine Konzerthalle in Moskau im März letzten Jahres beschuldigt wurden. Die Folterspuren wurden aller Welt vorgeführt – alle Männer trugen schwere Kopfverletzungen, einer wurde im Rollstuhl gebracht. Was ist aus ihnen geworden?
Im September dieses Jahres erklärte Russland seinen Austritt aus der Europäischen Antifolterkonvention.
Im Oktober verhinderten französische Behörden einen Anschlag auf den russischen Antifolteraktivisten Wladimir Osetschkin, der in Südfrankreich im Exil lebt.
Aggression und Repression gehen Hand in Hand
Aggression und Repression – auch die transnationale – gehen Hand in Hand. Und deshalb gehören Frieden, Menschenrechte und Fortschritt eng zusammen. Diese drei Prinzipien, die Andrej Sacharow 1975 ins Zentrum seiner Nobelpreisrede stellte, sind bereits in der Charta der Vereinten Nationen von 1945 verankert. Sie sind auch Dreh- und Angelpunkt der Vereinbarung über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, die am 1. August 1975 in Helsinki unterzeichnet wurde.
Derzeit gerät vieles ins Rutschen: Menschenrechtsstandards werden in Frage gestellt, auch bei uns. Manche sprechen von „westlichen Werten“, wenn sie die Menschenrechte meinen. Manche sagen, die Menschenrechte seien ein politisches Instrument der jeweiligen Gegenseite oder gar der internationalen Einmischung. Manche sagen, Menschenrechte seien ein schöner Traum – vielleicht zu verwirklichen, wenn alles andere erreicht sei.
Westlich? Nein. Weder sind die Menschenrechte, ihre Akzeptanz und Durchsetzung in Europa und Nordamerika selbstverständlich, noch sind sie außereuropäischen Kulturen fremd. Die Universalität der Menschenrechte ist schlicht an das Menschsein gebunden, an die Würde, die jedem Menschen unveräußerlich innewohnt. Folter ist unmenschlich – sowohl für den, der gefoltert wird als auch für den, der foltert, unabhängig davon, wo, an wem oder durch wen sie vollzogen wird.
Menschenrechte – ein politisches Instrument? Mitunter werden sie als ein solches missbraucht, aber viel öfter noch wird ihnen dieser Missbrauch durch den jeweiligen politischen Gegner unterstellt – von links oder rechts, gegen rechts oder links, wie es beliebt. Tatsächlich sind Menschenrechte unabhängig von Ideologien. In den Augen von Despoten aber sind sie verdächtig, ja geradezu gefährlich, weil diese zu ihrer Machtsicherung auf Menschenrechtsverletzungen angewiesen sind.
Menschenrechte – ein Traum? Nein. Längst sind Menschenrechte Gegenstand von lokalen und nationalen Gesetzen, von kontinentalen und globalen Vereinbarungen – einer ausgefeilten Rechtsarchitektur. Weil regelbasiertes Handeln aber Machtambitionen einschränkt, werden diese Konventionen mitunter ignoriert, verletzt, aufgekündigt. Wie essentiell die Menschenrechte sind, zeigen so umfassende Freiheitsbewegungen wie die in Polen in den 1980-er Jahren, in Belarus 2020 und im Iran 2022 – und das unabhängig von Erfolg oder Misserfolg.
Frieden und Menschenrechte bedingen einander
Die Menschenrechte sind nicht das I-Tüpfelchen auf einer wohlgeordneten Welt, sondern existentiell – jetzt. Frieden und Menschenrechte gehören zusammen, ja bedingen einander. Deshalb muss es bei Friedensverhandlungen auch zuerst (und nicht irgendwann später) um die betroffenen Menschen gehen. Dafür steht „People first“ – ein internationales Bündnis von Menschenrechtsinitiativen mit den Friedensnobelpreisträgern von 2022 an der Spitze: dem ukrainischen „Zentrum für bürgerliche Freiheiten“ und dem russischen „Memorial“. Das Bündnis setzt sich dafür ein, in Friedensverhandlungen die Freilassung der ukrainischen Zivilisten und Kriegsgefangenen, der entführten ukrainischen Kinder und der russischen politischen Gefangenen zu implementieren.
Die Initiative „People first“ zeigt, dass der Einsatz für die Menschenrechte ein solidarisches Unterfangen ist – und darin liegt Hoffnung. Wir alle stehen in der Verantwortung, der Forderung nach der Freilassung der politischen Gefangenen Nachdruck zu verleihen – so wie Andrej Sacharow vor 50 Jahren.
[1] Andrej Sacharow, Mein Leben, München und Zürich (2) 1991, S. 491
![]()



Der Abend war eine Gemeinschaftsveranstaltung der Deutschen Sacharow Gesellschaft, des Medienprojekts Strana i mir: Sakharov Review und der Botschaft der Tschechischen Republik. Er fand im Rahmen des vom Auswärtigen Amts unterstützten Projekts „Wege zur Aufarbeitung von Krieg und Diktatur“ der Deutschen Sacharow Gesellschaft statt.

