Fotos: privat / Josef Fischnaller 

 

Steht Russland am Rande des Totalitarismus? Mit dem verbrecherischen Krieg gegen die Ukraine, so scheint es vielen, wurde praktisch alles zunichtegemacht, was die demokratische Zivilgesellschaft 30 Jahre lang aufgebaut hatte. Über die Lage und Aussichten der russischen Zivilgesellschaft – und ob es sie noch gibt – diskutierten wir in der Uni Köln mit der bekannten russischen Politologin Ekaterina Schulmann.

Von Mikhail Kaluzhskii

Gibt es im heutigen Russland noch eine Zivilgesellschaft? Wenn ja, wie steht es um ihre Zukunft und ihre Möglichkeiten, die Politik zu beeinflussen? Oder driftet Russland ins Totalitäre ab?

Um diese Fragen ging es bei der von der Deutschen Sacharow Gesellschaft initiierten Diskussion “Ein Staat ohne Bürger? Russland am Rande des Totalitarismus” am 23. November an der Universität zu Köln. Auf dem Podium saßen die Verfassungsrechtlerin und ehemalige Vizepräsidentin des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofes Angelika Nußberger, sowie die populäre russische Politologin Ekaterina Schulmann.

Zur Einführung stellte Nußberger zehn Punkte (“Thesen”) zur russischen Zivilgesellschaft vor, die teilweise in einem einen von ihr im Sommer verfassten OSZE-Bericht stehen, der Russland attestiert, sich bei der Rechtspraxis von den Standards der Orgaisation verabschiedet zu haben. Nußberger erläuterte, dass sich Russland zwar stets an das Rechtsstaatprinzip halte, dass aber die Repressionen der letzten Jahren einen zynischen Umgang mit dem Recht offenbarten – Gesetze seien nicht mehr Schutzinstrumente sondern dienten der Unterdrückung der Zivilgesellschaft. Bei Punkt zehn, dem klassischen “was können wir machen” (chto delat), gab Nußberger unumwunden zu, dass sie keine Lösung wisse: “Da kann ich nur sagen – ich hoffe auf Frau Schulmann!”

Und Schulmann, die im April für ein einjähriges Stipendium an die Berliner Robert-Bosch-Akademie kam und daraufhin von Moskau zur „ausländischen Agentin“ erklärt wurde, begann mit einer hoffnungsvollen Botschaft. Die russische Gesellschaft, argumentierte sie, sei derzeit viel zu passiv und konformistisch, um sich in einen totalitären Staat zwängen zu lassen. Die Menschen seien atomistisch, wenig solidarisch und hätten insgesamt wenig Vertrauen in den Staat. Genau das aber ist laut Schulmann eine zuverlässige Versicherung gegen die Schaffung eines totalitären Staates: Mit Ausnahme der Generation der über 55-Jährigen, die aber bald abtreten werde, sei die russische Gesellschaft in weiten Teilen „wie Grütze“ aus der sich nichts Festes kochen lässt.

Woher kommt diese verbreitete Passivität? wollte Nußberger wissen. Schulmann, deren unaufdringlicher Optimismus und ruhiger Ton ihr viele Bewunderer eingebracht hat (einige schöpfen aus ihren Analysen gar eine „psychotherapeutische Kraft“), antwortete, dass den Menschen in Russland einfach die positive Erfahrung fehle, dass individuelles Handeln zu gesellschaftlichen oder politischen Veränderungen führten. Sie betonte, dass dies auch ein Erfolg des autoritären Systems sei, das keine genuin unabhängigen politischen Parteien und Gewerkschaften zulasse.

Schulmann wandte sich entschieden gegen Rufe nach einer möglichst vollständigen Isolierung Russlands als Antwort auf die Kriegsverbrechen in der Ukraine. Dies mache ein Abdriften in den Totalitarismus erst möglich: „Diejenigen, die denken, dass ein sicheres Russland ein isoliertes Russland ist, würde ich warnen, dass das nicht aufgehen könnte“, sagte sie und argumentierte, dass eine vollständige Isolation den bevorstehenden Generationenwechsel von den über 55-Jährigen zu den Jüngeren gefährde. Denn wenn die heute jugendlichen Russen die nächsten 15 Jahre in Armut, Isolation und gefühlter nationaler Erniedrigung lebten, dann werde es in Russland nachher viel mehr Menschen geben, die “Revanche” wünschten und “zum Motor für wirklich totalitäre politische Umwälzungen werden können”.

Die Diskussion mit Schulmann über das Thema Gesellschaft im Krieg stieß zu Recht auf reges Interesse. Denn die Frage, warum die russische Zivilgesellschaft Ende Februar und Anfang März 2022, als es noch gewisse Freiräume gab, nicht massenhaft gegen den Krieg protestiert hat, ist auch mehr als 300 Tage nach Kriegsbeginn noch aktuell.

Ekaterina Schulmann kann in Russland derzeit nicht mehr zu ihrem Publikum an der Moscow School of Social and Economic Sciences (bekannt als Schaninka) sprechen. Nach einer weiteren Verschärfung der “Agentengesetze” im Dezember ist ihr jegliche pädagogische Tätigkeit in der Heimat untersagt. Die Politologin muss daher auf auf YouTube zu ihren Fans sprechen – dort hat sie mehr als eine Million Abonnenten.

 

Die Diskussion war eine Kooperationsveranstaltung von der Deutschen Sacharow Gesellschaft e.V., der Zweigstelle Köln/Bonn der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde e.V., der Universität zu Köln und des Lew Kopelew Forums. Sie wurde im Rahmen des Projekts „Dialoge in der Turbulenzzone” vom Auswärtigen Amt unterstützt.

Informationspartner: Youtube-Kanal “O Strane i Mire” (Über Land und Welt)