Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine verändert die politische Lage in Europa. Er hat Folgen für die Außen- und Innenpolitik und für die Wirtschaftspolitik. Wie wird Europa aussehen, wenn der Krieg eines Tages zu Ende ist? Kann Russland mit westlichen Ländern in Frieden leben? Diese und andere Fragen wurden während der Konferenz „Land und Welt: Russische Realitäten-2024“ diskutiert, die kürzlich in Berlin stattfand und auf der die Deutsche Sacharow Gesellschaft mit zwei Panels vertreten war.
Während des Panels „Ist ein Dauerhafter Frieden mit Russland möglich?“, sagte der Grünen-Europaabgeordnete Sergey Lagodinsky, dass Russlands künftige Rolle davon abhängen wird, welche Schlussfolgerungen seine Gesellschaft nach Kriegsende zieht: „Wird es im neuen Russland einen Willen zu Freiheit und der Achtung der Freiheit anderer geben? Werden wir die Barriere von Totalitarismus und Imperialismus überwinden können?“
Ist Frieden Schaffen Aufgabe der russischen Zivilgesellschaft?
Laut Lagodinsky herrscht zurzeit weltweit Misstrauen gegenüber der russischen Zivilgesellschaft, die sich für eine Demokratisierung und Liberalisierung des Landes einsetzt. Der Grünen-Politiker erklärte, dass viele Zweifel haben, ob ein Kampf der russischen Gesellschaft für Demokratie auch ein Kampf für ein friedliches Russland in der Zukunft bedeutet. Wichtig sei es, eine Antwort auf die Frage zu finden, ob gesellschaftlicher Wandel in Russland automatisch zu einem Ende der Aggression führt.
Aufzeichnung des Panels „Ist ein Dauerhafter Frieden mit Russland möglich?“ (Russisch, eine englische Fassung folgt):
Dagegen argumentierte der aus Kyjiw zugeschaltete Politologe Andreas Umland, dass die Situation innerhalb Russlands in diesem Fall keine besondere Rolle spielen werde. Denn in der Regel seien innere Reformen das Ergebnis äußerer Niederlagen, sagte er.
Als Beispiel führte Umland Nazideutschland an. Während des Zweiten Weltkriegs habe es dort auch eine Zivilgesellschaft und inneren Widerstand gegeben, die aber nur eine kleine Rolle beim Sturz des Regimes gespielt hätten. Entscheidend waren die Kriegsniederlage und das Eingreifen der Aliierten.
Umland betonte, dass viele in der Ukraine eine künftige Demokratisierung Russlands skeptisch sehen. „Der Verdacht ist, dass bei freien Wahlen zwischen der ‚Partei der Freiheit‘ und der ‚Partei des Imperiums‘ eine Mehrheit für die ‚Partei des Imperiums‘ stimmen würde“ meinte er.
Die Chance für einen künftigen Frieden hängen laut Umland sehr viel stärker vom Handeln anderer Staaten ab, von internationalen Garantien und Verträgen, sowie von militärischer Sicherheit, aber nicht von Entwicklungen innerhalb Russlands.
„Eine Niederlage Russlands reicht nicht aus für dauerhaften Frieden“
Der Philosoph und Ukraine-Experte des Kennan-Instituts Michaylo Minakow stimmte zu: Frieden werde nicht so sehr von Russlands innerer Situation abhängen, sondern von einer umfassenden internationalen Lösung. Er sagte: „Eine Niederlage Russlands ist notwendig, aber sie alleine reicht nicht aus für einen dauerhaften Frieden“.
Minakow wie darauf hin, dass nach dem Zerfall der Sowjetunion wichtige Aufgaben liegengeblieben sind, Staaten hätten sich zu wenig miteinander abgestimmt und es seien keine dauerhaften Vereinbarungen getroffen worden. In vielerlei Hinsicht sei dies die Ursache der jetzigen Krise.
Minakow zufolge ist es wichtig, Lehren zu ziehen und sich auf den Aufbau einer neuen Infrastruktur zur Wahrung des Weltfriedens zu konzentrieren. Wenn das nicht passiere, werde der „Kreislauf der Kriege“ in Osteuropa andauern und auf mehr Länder übergreifen.
Umland pflichtete dem bei, dass die derzeitigen internationalen Strukturen nicht funktionierten: Als ständiges Mitglied im UN-Sicherheitsrat manipuliere Russland internationales Recht und führe seinen Krieg mit diplomatischen Mitteln fort.
„Russland wir immer bereitwilliger zu Gewalt greifen“
Auf dem Panel „Russland und Weltpolitik“ betonte Stefan Meister, Russland-Experte der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), dass der Krieg nicht nur Auswirkungen auf die internationalen Beziehungen in Europa, sondern auf der ganzen Welt hat.
Meister argumentiert, dass Russlands Rolle auf globaler Ebene deutlich geschwächt sei. Moskau sei immer häufiger gezwungen, Kompromisse einzugehen in Regionen, in denen früher die Interessen des Kremls respektiert worden seien. Als Beispiel dafür nannte er den Abzug der russischen Truppen aus Berg-Karabach. „Der Überfall (auf die Ukraine) untergräbt Russlands Rolle als regionale Führungsmacht und beschleunigt den Kollaps des Imperiums“, sagte er.
Diese Änderungen werden sich laut Meister als schmerzhafter Prozess fortsetzen. Und wegen des Verlusts seiner Rolle als Hegemon werde Russland immer bereitwilliger zu Gewalt greifen, um seine Politik in Nachbarstaaten durchzusetzen. Vieles hänge davon ab, ob andere Länder dies zulassen werden, meinte der DGAP-Experte.
Meister fügte aber hinzu, dass Russlands derzeitige Situation nicht nur schwach sei, sondern auch einen Vorsprung habe. Denn Moskau sei in der Lage, Streit und Zerrissenheit zwischen europäischen Ländern auszunutzen, um seinen Einfluss zu stärken. Für viele Autokraten sei Russland ein Staat, der Standards im Bereich von Internetzensur und Unterdrückung der Zivilgesellschaft setze. Für Länder wie Georgien, Serbien oder Ungarn könne dies Russland zu einem attraktiven Partner machen.
Darüber hinaus sei Russland im globalen Süden erfolgreich bei der Verbreitung seines Narrativs über die Ursachen des Krieges. Es werbe auch für das Konzept der Multipolarität, was zu neuen Bündnisse führe.
Wie werden sich die Wahlen in den USA und Deutschland auf den Krieg auswirken?
Die Leiterin des European Council on Foreign Relations in Berlin, Jana Puglierin, versuchte angesichts des Wahlsieges von Donald Trump in die Zukunft zu blicken, stellte aber fest, dass es noch zu früh sei, um zu sagen, wohin Trumps Präsidenschaft führen wird. Trump habe ja oft Sympathien für autoritäre Politiker geäußert und angedeutet, er werde die Beziehungen mit Moskau stärken. Andererseits handele er oft entgegen seinen eigenen Versprechungen.
Mit Blick auf die Bundestagswahlen am 23. Februar sagte Puglierin, dass von deren Ausgang abhängen werde, wieviel und welche Art der Unterstützung die Ukraine erhalten wird. Immerhin sei CDU-Chef Friedrich Merz, der die besten Aussichten auf einen Wahlsieg hat, bereit, Risiken einzugehen und militärische Unterstützung als Druckmittel einzusetzen, um Verhandlungen zu beschleunigen.
Puglierin betonte, dass es in der deutschen Politik unabhängig vom Wahlergebnis Konsens sei, dass die Unterstützung der Ukraine notwendig ist und dass Russland die stärkste Bedrohung für Europas Sicherheit darstellt, die es einzudämmen gilt.
Die hier wiedergegebene Diskussion war eine Gemeinschaftsveranstaltung mit dem Medienprojekt „Strana i Mir“ (Land und Welt) im Rahmen der Konferenz „Russische Realitäten“. Die jährliche Veranstaltung setzt die gleichnamige Konferenzreihe fort, die von 2018 – 2022 im mittlerweile aufgelösten Sacharow-Zentrum in Moskau abgehalten wurde.
Die Panels fanden im Rahmen des vom Auswärtigen Amt unterstützten Projekts „Wege zur Aufarbeitung von Krieg und Diktatur“ der Deutschen Sacharow Gesellschaft statt.