Online-Diskussion: Georgien am Scheideweg

von | 10. Jun 2024 | Aktuell, Veranstaltung

Wie kann sich die georgische Zivilgesellschaft gegen das „russische Agentengesetz“ wehren und was bedeutet seine Verabschiedung für die demokratische Zukunft der Republik im Südkaukasus? Darüber haben wir bei unserer Online-Diskussion zusammen mit dem Medienprojekt “Land und Welt” am 13. Juni diskutiert.

Zur Original-Aufzeichnung (Russisch)

Die georgischen Parlamentswahlen am 26. Oktober kommen einer Schicksalswahl gleich, in der es um die demokratische Zukunft des Landes im Südkaukasus geht. Das ist das Ergebnis der Online-Diskussion Georgien am Scheideweg, die die Deutsche Sacharow Gesellschaft gemeinsam mit dem Medienprojekt „Land und Welt“ kürzlich veranstaltete.

Die Vortragenden waren sich einig, dass die Regierungspartei Georgischer Traum, die in Wirklichkeit vom Geschäftsmann Bidsina Iwanischwili kontrolliert wird, immer rücksichtsloser gegen die georgische Zivilgesellschaft vorgeht, um an der Macht zu bleiben. In den vergangenen Monaten wurden Aktivisten und Oppositionelle während der Proteste gegen das „Agentengesetz“ mit organisierter Gewalt und Drohungen eingeschüchtert.

Am deutlichsten wurde Sergi Kapanadse, ein ehemaliger stellvertretender georgischer Außenminister und Gründer des Thinktanks Georgia’s Reform Associates. Iwanischwili, warnte er, plane ein Regime ähnlich wie in Belarus einzuführen. “Er will unbegrenzte Macht mit einem Mandat der Bevölkerung“. Als Beleg erinnerte Kapanadse an Iwanischwilis Rede vom 29. April, als der Milliardär behauptete, der Westen werde von einer „globalen Partei des Krieges“ kontrolliert und Repressionen nach einem Wahlsieg ankündigte. „Er hat buchstäblich gedroht, jeden zu verhaften“, sagte er. Kapanadse argumentiere, dass Iwanischwili bereits entschlossen sei, eine Diktatur zu errichten. In diesem Sinne sei der „Scheideweg“ bereits überschritten.

Auch Stefan Meister von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), meinte dass Georgien bereits ein autoritärer Staat sei. Meister, der zwischen 2019 und 2021 das Büro der Heinrich-Böll-Stiftung in Tiflis gleitet hatte, argumentierte, dass die für einen EU-Beitritt nötigen Reformen für Iwanischwili nur Nachteile brächten: Rechtssicherheit, Checks und Balances sowie Medienfreiheit würden seine Macht beschneiden.

Weil aber die europäische Vision weiter in der georgischen Bevölkerung sehr populär sei, versuchten Iwanischwili und seine Partei, die EU so zu spoilern, „dass Brüssel den Prozess stoppt“. Dabei könne der Oligarch auf Rückhalt in den Regionen und unter der älteren Bevölkerung bauen. Dazu komme, dass die Opposition schwach und zerstritten sei. „Ein Riesenproblem ist, dass es derzeit keine attraktive Alternative gibt“, meinte er. Staatspräsidentin Salome Surabischwili sei zwar derzeit die integerste Figur, könne aber keine Brücken zum Regierungslager bauen.

Die georgische Journalistin Ia Barateli äußerte sich hoffnungsvoller. Statt eines einzelnen Oppositionsführers wolle die Mehrheit eine Koalitionsregierung, meinte sie. Es gebe an der Basis verbreiteten Ärger auf die Regierung, und 60 Prozent der Wähler seien noch unentschlossen, das sei eine große Chance für die Opposition. Sollte allerdings der georgische Traum die Wahl gewinnen, dann sei denkbar, dass sich Iwanischwili zum Jahreswechsel vom Parlament zum Präsidenten wählen lasse. „Er hat beschlossen wieder öffentlichen Person zu werden,“ sagt sie.

Dagegen warnte Kapanadse, dass dem Georgischen Traum nur 200.000 Stimmen fehlen. Er rechnete vor, dass die Iwanischwili-Partei 1,1 Millionen Stimmen zum Sieg braucht. 900.000 Stimmen seien so gut wie sicher bzw. leicht zu gewinnen – 300.000 von Staatsbediensteten und 600.000 von sozial schwachen Wählerinnen und Wählern. Die restlichen 200,000 zu gewinnen, dürfe der Regierungspartei nicht allzu schwer fallen, warnte er.

Wahlfälschungen im großen Stil sind Kapanadse zufolge unwahrscheinlich. Der Experte warnte aber davor, dass die Regierungspartei im Falle einer Niederlage diese nicht akzeptieren werde. Dann drohe ein belarusisches Szenario, indem die Regierung versucht, mit polizeistaatlichen Mitteln an der Macht zu bleiben. „Das ist, was mir Sorgen macht“, betonte er.

Die Veranstaltung fand im Rahmen des vom Auswärtigen Amt unterstützten Projekts „Wege zur Aufarbeitung von Krieg und Diktatur“ der Deutschen Sacharow Gesellschaft statt.

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