Caroline von Gall, Grigory Vaypan, Nikolai Bobrinsky, Gleb Bogush und Moderatorin Ksenia Lutschenko (vlnr).
Was passiert mit Russland, wenn Wladimir Putin weg ist? Diese Frage ist nicht nur für das Land selbst essentiell, sondern auch für seine Nachbarn wie die Ukraine, die unsägliches Leid wegen Moskaus aggressiver Diktatur ertragen müssen. Eine Gruppe im Exil lebender russischer Juristen hat nun einen Plan vorgestellt, wie das Land in diesem Fall zu Rechtstaat und Demokratie zurückkehren könnte. Sein Name: „100 Tage nach Putin“.
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Es ist längst ein Gemeinplatz, dass sich Russland unter Wladimir Putin nicht mehr ändern wird. Solange er an der Macht ist, bleibt das Land eine nach außen und innen aggressive Diktatur, eine Gefahr für Sicherheit und Wohlergehen aller in Europa, besonders natürlich der Menschen in der Ukraine, aber auch in Russland. Nach Putin aber gibt es vielleicht eine Chance, das zu ändern. Von dieser Chance handelt das Projekt „100 Tage nach Putin“ des Memorial Human Rights Defence Centre, das am 27. Mai gemeinsam mit der Deutschen Sacharow Gesellschaft in Berlin vorgestellt wurde. Dabei geht es in dem Projekt weniger darum, wie groß diese Chance sein wird – da gehen die Meinungen auseinander – sondern vielmehr darum, was aus juristischer Sicht getan werden kann und sollte, um sie, so groß oder klein auch immer sie sein wird, maximal und vor allem besser als vor 35 Jahren zu nutzen.
Damit Russland nicht wieder von einer Diktatur in eine andere fällt
Die wichtigste Frage dabei sei, so Grigory Vaypan, Verfassungsrechtler und einer der Autoren des Projekts, wie nach dem Ende von Putins Herrschaft verhindert werden könne, dass Russland nicht einfach erneut von einer Diktatur in eine andere falle und damit auch der Krieg gegen die Ukraine weitergehe. Um das zu verhindern, müsse man sich vorbereiten. Das Projekt „100 Tage nach Putin“ ziele darauf, nicht wieder so überrascht dazustehen wie am Ende der Perestroika. Man habe sich daher drei Prioritäten zum Ziel gesetzt: Frieden, Verantwortung und Demokratisierung.
Die 100 Tage seien dabei eher als Rahmen zu verstehen, denn als konkrete Zielmarke, ergänzte Nikolai Bobrinsky, ein Experte für Übergangsjustiz, der derzeit an der Humboldt-Universität promoviert. Orientiert habe man sich an den gegenwärtigen Vorgaben der russischen Verfassung, die vorsehe, dass binnen drei Monaten nach dem Abtritt eines Präsidenten Neuwahlen stattfinden müssen. Es sei aber nicht wünschenswert, dass das passiere, da jeder neue Präsident die gleichen, fast diktatorischen und damit verführerischen Vollmachten haben werde wie jetzt Putin. Deshalb müsse man schnell sein und die Übergangszeit nutzen, um das politische System zu ändern, weg von dem strengen Präsidialsystem zu einer mehr parlamentarisch bestimmten Demokratie.
Frieden als wichtigste Voraussetzung
Gleb Bogush, Experte für Völkerrecht an der Universität Köln fügte an, dass das Projekt sich ausdrücklich nicht an bestimmte politische Kräfte wende. Es gehe von der Annahme aus, dass Russland nicht verschwinden werde, auch wenn die Bedingungen, unter denen Putin abtreten werde, heute natürlich unbekannt seien. Das Wichtigste sei aber, dass dann Frieden herrschen müsse. Das gegenwärtige politische Regime und der Krieg bedingten sich gegenseitig. Äußere und innere Repressionen seien zwei Seiten derselben Medaille. Die notwendigen ersten Schritte nach Putins Abgang seien zuerst ein Waffenstillstand, dann ein Ende der Besetzung ukrainischer Gebiete durch Russland und die Zahlung von Reparationen für die Zerstörungen, die Russland in der Ukraine angerichtet habe. Auch die bisherige fast völlig Verantwortungslosigkeit für Entscheidungsträger in Russland müsse enden. Täter und Verbrecher dürften nicht, wie am Ende der Sowjetunion und bisher immer in der russischen Geschichte, straffrei ausgehen. Allein die jetzige politische Führung zur Verantwortung zu ziehen, wäre etwas bisher nicht Dagewesenes für Russland. Deshalb sehe das Projekt ein Tribunal zur Aufarbeitung der Verbrechen vor.
Zehntausende Richter und Beamte müssen ersetzt werden
Vaypan betonte in diesem Zusammenhang die Bedeutung einer Übergangsjustiz. Das russische Justizsystem sei Teil des gegenwärtigen Staatsterrors. Neben den etwas mehr als 1.000 von Memorial anerkannten politischen Gefangenen gebe es inzwischen bis zu 100.000 Opfer staatlicher Gewalt in Russland, zum Beispiel diejenigen, die zu „ausländischen Agenten“ erklärt worden seien oder Journalistinnen und Journalisten, deren Medien und Websites geschlossen wurden. Um das Vertrauen in die Justiz wiederherzustellen, müssten wohl bis zu 10.000 Richterinnen und Richter ersetzt werden, ergänzte Bobrinsky. Allein das sei eine riesige Aufgabe, wie schon die Frage zeige, wer sie ersetzen könne. Laut Vaypan müssten auch die Chefs und Leitungsebenen der Sicherheitsdienste, an erster Stelle natürlich der Inlandsgeheimdienst FSB, aber auch der Nationalgarde oder der Zensurbehörde Roskomnadsor und andere ausgetauscht werden. Im Gegensatz zum Beginn der 1990er Jahre, als darauf verzichtet wurde, sei eine umfassende Lustration, also die Entfernung belasteter Beamter, nötig. Dem Projekt schwebe außerdem die Idee der Einrichtung einer „Wahrheitskommission“ vor, wie es sie in verschiedenen anderen Ländern nach Diktaturen gegeben habe, am bekanntesten in Südafrika.
Bobrinsky zufolge hat das Projekt insgesamt 69 Gesetze identifiziert, die unbedingt und unmittelbar geändert werden müssten, weil sie dem Staat ausschließlich oder überwiegend dazu dienen, demokratische Beteiligungs- und Freiheitsrechte einzuschränken. Das betreffe in erster Linie die Rede-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit. Fünf Gesetze schlage man vor, ersatzlos zu streichen, darunter das Gesetz über „ausländische Agenten“ und das Gesetz zu „unerwünschten Organisationen“.
Die Verfassungsrechtlerin Caroline von Gall, Vorstandsmitglied der Deutschen Sacharow Gesellschaft, wies zum Abschluss darauf hin, dass es im Vorfeld des Projekts viele Diskussionen gegeben habe, ob es angesichts des andauernden Kriegs gegen die Ukraine und der dort von Russland fortgesetzt begangenen Verbrechen überhaupt angemessen sei, sich jetzt mit der Zukunft Russlands nach Putin zu beschäftigen oder ob das nicht davon ablenke, der Ukraine zu helfen. Man sei aber zu dem Schluss gekommen, dass auch jetzt über diese Verbrechen gesprochen werden müsse, und zwar auf russisch, damit es Russinnen und Russen verstehen. In gewisser Weise wiederhole man die Arbeit der sowjetischen Dissidenten in den 1970er und 1980er Jahren. Die hätten eine Sprache des Rechts entwickelt, auf der das dann freie und demokratische Russland, wenn es gewollt hätte, hätte aufbauen können. Ebenso würde das Projekt an den Grundlagen eines künftigen demokratischen und damit für seine Nachbarn und die eigenen Bürgerinnen und Bürger ungefährlichen Russland arbeiten.
Sacharow verpflichtet
Auf die Frage aus dem Publikum, ob das nicht alles lediglich eine schöne Utopie und ohne praktischen Nutzen sei, kam die Antwort, das hätte man auch Andrej Sacharow und die Dissidentinnen und Dissidenten fragen können. Sacharows Triade „Frieden, Fortschritt, Menschenrechte“ sei aber noch heute, nach über 50 Jahren aktuell. Ihr fühle sich das Projekt verpflichtet.
Die Diskussion war eine gemeinsame Veranstaltung mit dem Memorial Menschenrechtszentrum im Rahmen des vom Auswärtigen Amt geförderten Projekts „Wege zur Aufarbeitung von Krieg und Diktatur“ der Deutschen Sacharow Gesellschaft.
Foto: Anke Phoebe Peters