Die Brutalität des Angriffskrieges gegen die Ukraine und die verbreitete Anteilslosigkeit der russischen Bevölkerung angesichts der Greuel werfen die Frage auf, ob es in der russischen Gesellschaft inhärente Tendenzen zur Gewalt gibt. Thema für eine oft kontroverse Diskussion, die die Deutsche Sacharow Gesellschaft kürzlich in Berlin veranstaltete.
.Von Andrei Archangelski
Die Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung, die das Putin-Russland derzeit in der Ukraine verübt, sind nur die Spitze eines Eisbergs der Gewalt, der sich in den letzten 20 Jahren in der russischen Gesellschaft entwickelt hat. Gewalt ist dieser Gesellschaft dermaßen in Fleisch und Blut übergegangen, dass man von einer kulturellen Praxis sprechen kann. Das ist ein Fazit der Diskussion “Russland und der Teufelskreis der Gewalt”, welche die Deutsche Sacharow Gesellschaft kürzlich mit der russischen Schriftstellerin Irina Rastorgueva und dem Schriftsteller Boris Schumatsky in Berlin veranstaltet hat.
Der seit knapp 30 Jahren in Berlin lebende Schumatsky wies vor allem auf die Totalität der Gewalt im heutigen Russland hin: Zentrale gesellschaftliche Institutionen – Bildung, Wissenschaft, Kirche und Justiz –, die eigentlich zivilisierte Praktiken vermitteln sollten, vermitteln in Wirklichkeit Gewalt.
Die Schriftstellerin und Dramaturgin Rastorgueva spricht von einer „Hierarchie der Gewalt“, die die russische Gesellschaft von unten nach oben durchdringt. In ihrer Heimat, der russischen Pazifikinsel Sachalin, hat Rastorgueva in Waisenhäusern beobachtet, wie gewaltsame Praktiken an der Basis ihren Ursprung haben. Sogar die Sprache sei von Gewalt durchdrungen gewesen und habe das Weltbild der Heranwachsenden geprägt. Die auf dem Sieg im Zweiten Weltkrieg basierende patriotische Propaganda in Kindergärten und Schulen erzeugt nach ihrem Dafürhalten einen besonderen Kult der Totenverehrung, der an Praktiken prähistorischer Gesellschaften erinnert.
Ein zweiter Punkt, auf den beide Gäste hinwiesen, ist die Tatsache, dass Gewalt als “freiwillige Praxis” von der Gesellschaft selbst übernommen wird – allem voran in der Familie. Ein für totalitäre Systeme typisches Paradox ist, dass der Einzelne sowohl Instrument als auch Opfer von Gewalt ist: Jedes Familienoberhaupt – im patriarchalischen Russland natürlich ein Mann – ist in der Schule, in der Armee und bei der Arbeit staatlicher Gewalt ausgesetzt. In ihren Familien kompensieren diese Männer dann ihre Demütigungen mit Gewalt gegen die Schwächeren in ihrem Umfeld – Frauen, Kinder und Ältere.
Während Gewalt, die sich aus der Angst speist, Opfer zu werden, präventive Gewalt genannt werden kann, ist die andere gängige Form der Gewalt den Vortragenden zufolge diejenige, mit der Akteure eigenes Handeln und/oder die Unterordnung der Umgebung zu legitimieren versuchen. Es sei hoch symbolisch, dass im Angriffskrieg gegen die Ukraine die beiden Hauptinstitutionen solcher Gewalt, die Gefängnisse und die Streitkräfte, bis zur Ununterscheidbarkeit verschmelzen.
In Großstädten ging die Gewalt zuletzt zurück
Gibt es einen Ausweg aus dieser Situation? Weder Rastorgueva noch Schumatsky blicken optimistisch in die Zukunft. Und doch unterscheidet sich ihr Blick von dem derjenigen, die vor dem Krieg in Moskau und anderen russischen Großstädten gelebt haben. Dort hat es in den letzten Jahren – entgegen der staatlichen Logik und dank zivilgesellschaftlicher Initiativen – positive Entwicklungen gegeben. Unabhängigen Untersuchungen zufolge ist das Ausmaß an Gewalt und Aggression in Großstädten im Vergleich zu den 1990er und 2000er Jahren zurückgegangen. Gleichzeitig wuchs das zivilgesellschaftliche Engagement auch in der Provinz: Der größte soziale Protest 2020 fand nicht in Moskau, sondern im fernöstlichen Chabarowsk statt – wo Zehntausende gegen die Ernennung eines neuen Gouverneurs auf die Straße gingen.
Doch wie auch in anderen autoritären postsowjetischen Ländern konnten sich regionale Proteste nicht in kollektive Erfahrung auf nationalem Maßstab übertragen. Der vom Putin-Regime entfesselte Krieg gegen die Ukraine war nicht nur ein Versuch, die Demokratie in dem Nachbarland zu zerstören, sondern unterdrückt auch das wachsende zivilgesellschaftliche Bewusstsein in Russland selbst.
Der Krieg zwingt alle in die Verantwortung
Der anhaltende Krieg macht auch die positiven Tendenzen der Vergangenheit zunichte und zwingt alle Russinnen und Russen in die Verantwortung – die “guten”, die “bösen” und die “neutralen”. Das macht es besonders schwierig, über die Zukunft zu sprechen. Aber gerade in Deutschland, das ja seine eigne Erfahrung mit Totalitarismus hat, weiß man, wie dünn die Grenze zwischen Zivilisation und Barbarei ist. Eine der bitteren Fragen in dieser Diskussion war, ob die Gewalt in Russland spezifisch ist oder ob sie die Folge einer schwachen, unvollkommenen Demokratie ist. Könnte Russland unter anderen Umständen anders sein?
Die Meinungen der Anwesenden waren geteilt. Die Optimisten plädierten vor allem für eine ganzheitliche historische Betrachtung. Trotz der heftigen Kriegspropaganda sei die russische Gesellschaft von einer vollkommenen Militarisierung noch weit entfernt. In Moskau und anderen Großstädten, wo zusammengenommen drei Viertel der russischen Bevölkerung lebt, lehnt eine Mehrheit eine Teilnahme am Krieg nach wie vor ab. Das mag eine passive Haltung sein, aber das ist es, was den Kreml weiterhin davon abhält, das Kriegsrecht zu verhängen und eine allgemeine Mobilisierung durchzuführen. Die wachsende Unterdrückung der Opposition in Russland beweist paradoxerweise auch, dass der Staat Angst vor der Zivilgesellschaft hat.
Auf der anderen Seite gibt es einen Anstieg der Gewalt unter den heute 20- bis 30-Jährigen, die nach dem Zusammenbruch der totalitären Sowjetunion aufgewachsen sind, aber den Angriffskrieg unterstützen? Rastorgueva glaubt, dass dafür das Staatsfernsehen verantwortlich ist: Dessen antiwestliche und antiukrainische Propaganda ist in den letzten acht Jahren für die meisten Menschen in Russland zur Norm geworden.
Ist es ethisch vertretbar, von etwas “Gutem” in Russland zu sprechen, solange das Land einen Eroberungskrieg führt?
Zum Beginn der Diskussion wurde der Begriff “Aufarbeitung der Diktatur” verwendet. Das sind wichtige Worte. Russland steht eine solche Aufarbeitung – wie es in Deutschland schon seit vielen Jahren geschieht – noch bevor. Aber im Gegensatz zu Deutschland hat Russland so gut wie keine Erfahrung mit Demokratie. Dafür hat es viel Erfahrung mit Kolonialismus.
Kann vielleicht der Diskurs über Kolonialismus helfen, den Grund für die Entmenschlichung Russlands zu verstehen? Hier ist eine historische Perspektive wichtig: Der Kolonialismus der Zarenzeit versprach “rückständigen Völkern” in eroberten Gebieten höheren Lebensstandard durch „Aufklärung“. Der sowjetische Kolonialismus rechtfertigte Eroberungen damit, dass man den Eroberten marxistische Ideologie und die Idee sozialer Gleichheit bringe. Und obwohl dies totalitär durchgesetzt wurde, glaubten viele Menschen die sowjetischen Rechtfertigungen – weil sie auf der universellen Idee sozialer Gerechtigkeit beruhten.
Der Kolonialismus Putins unterscheidet sich dadurch, dass er weder große Ideen noch eine bessere Zukunft bietet, sondern eine Rückkehr zur Vergangenheit als Gut und universelle Idee propagiert. Während also, wie Podiumsteilnehmer betonen, kolonialistisches Morden im 19. und 20. Jahrhundert mit Ideologien verbrämt wurde, hat sich die Idee des Terrors heute verselbständigt. Das spezifische Know-how des neuen russischen Kolonialismus besteht in der Verschmelzung zweier gegensätzlicher Konzepte: Gewalt und Liebe.
In der Kreml-Propaganda heißt das, dass Raketen, Bomben und Granaten in Wirklichkeit nur von der Liebe und Fürsorge für die “verblendeten” (Ukrainer) zeugen – so wird aus Vergewaltigung ein „Liebesakt”. Dieser neue Kolonialismus hat aus dem ideologischen Arsenal der Vergangenheit nur das Wort “Befreiung” übernommen, das heute blasphemisch wirkt. Putins eigene Weltsicht kann als transkolonial beschrieben werden – schon 2016 behauptete er, dass „Russlands Grenzen nirgendwo enden“, womit er die ganze Welt zur Kolonie Russlands machte.
Das Paradoxe ist jedoch, dass die Propaganda des totalen Krieges sich nun gegen das Regime selbst wendet – was sich jüngst während der Meuterei der Wagner-Privatarmee beobachten ließ. Die Schlussbemerkung eines Diskussionsteilnehmers, dass das Gewaltmonopol des russischen Staates heute erodiert, ist daher besonders aktuell. Das stellt Europa und die Welt vor neue Herausforderungen, auf die wir vorbereitet sein müssen – ein weiterer Beleg für die Relevanz und Wichtigkeit solcher Diskussionen in der heutigen Zeit.
Der Schriftsteller und Publizist Boris Schumatsky ist in Moskau geboren und lebt seit Mitte der 1990er Jahre in Berlin. In seinem 2016 erschienenen Essaybuch “Der neue Untertan. Populismus, Postmoderne, Putin” beschreibt er die Situation der europäischen Politik und Gesellschaften.
Irina Rastorgueva wurde 1983 auf Sachalin geboren, studierte dort Philologie und arbeitete als Kulturjournalistin. 2006-2015 war sie Dozentin für Journalistik an der Staatlichen Universität Sachalin. Von 2011 bis 2017 war sie Dramaturgin am Tschechow-Theater Sachalin. Seit 2017 arbeitet sie als freie Dramaturgin und Regisseurin in Berlin. 2022 erschien ihr Buch “Das Russlandsimulakrum“.
Andrei Archangelski ist ein russischer Kulturjournalist und freier Publizist. Er lebt in Berlin.
Das Gespräch fand im Rahmen des vom Auswärtigen Amts unterstützten Projekts „Wege zur Aufarbeitung von Krieg und Diktatur“ der Deutschen Sacharow Gesellschaft statt. Ziel des Projekts ist, die Stimmen russischer Dissidenten und Kriegsgegnerinnen bekannter zu machen.
Foto: Verlag / Milena Schlösser