Russlands widersprüchlicher Militarismus

von | 14. Mai 2025 | Aktuell, Veranstaltung

Für viele der Höhepunkt des Militarismus in Putins Russland: Die Parade zum Siegestag in Moskau Foto: Wikicommons/kremlin.ru

Für Außenstehende erscheint die russische Gesellschaft seit Beginn der Großinvasion 2022 weitgehend monolithisch: Besonders gilt das zum Siegestag am 9. Mai, wenn Bilder marschierender Soldaten der scheinbar unbesiegbaren Putin-Armee von der Militärparade um die Welt gehen. Hinter der patriotischen Fassade verbergen sich jedoch zahlreiche Paradoxe, die von Außen nicht leicht erkennbar sind.

Viele dieser Widersprüche wurden während eines Online-Briefings aufgezeigt, das die Deutsche Sacharow Gesellschaft kürzlich gemeinsam mit dem Medienprojekt „Strana i Mir“ (Land und Welt) organisierte. Einige Teilnehmer waren gezwungen anonym vorzutragen, weil sie in Russland leben – umso wertvoller war jedoch ihr Blick von innen.

So zählte etwa ein Moskauer Soziologe zahlreiche Beispiele für die ambivalente Haltung vieler Russen gegenüber dem Krieg auf: Einerseits seien Restaurants und Bars in der der Hauptstadt voller Menschen, die bei ihren Cocktails offensichtlich nicht über die „spezielle Militäroperation“ nachdenken, andererseits zeigten Umfragen eine stabil hohe Zustimmung zum Angriffskrieg gegen die Ukraine.

Hinzu kommt, dass die ausufernde Militarisierung gerade in den Teilen der Gesellschaft stärker zu spüren ist, die aufgrund ihres Alters nicht direkt am Krieg teilnehmen werden – das sind Rentnerinnen und Rentner, die fast ein Drittel der russischen Bevölkerung ausmachen. Gleichzeitig ist der Anteil junger Menschen in den vergangenen drei Jahren drastisch zurückgegangen – nicht zuletzt weil nach der Mobilmachung 2022 viele das Land verlassen haben. Zwar zeigten Umfragen tatsächlich eine stabil hohe Unterstützung für die „Militäroperation“, gleichzeitig sei jedoch mehr als die Hälfte der Befragten zu einem sofortigen Frieden bereit – allerdings zu Russlands Bedingungen.

Und wie sieht man in Russland die Wahrscheinlichkeit eines bewaffneten Konflikts mit dem Westen? Laut dem Soziologen sind die Einstellung zum Westen an sich und zu einem möglichen Krieg zwei verschiedene Dinge. Insgesamt stünden die Russen dem Westen sehr ablehnend gegenüber, es gebe jedoch Unsicherheiten, ob die USA mit Amtsantritt Donald Trumps noch zum Westen, zur NATO und anderen offiziell feindlichen Objekten zählen sollten.

Widersprüche im kollektiven Bewusstsein

Hinsichtlich des Krieges sei die russische Gesellschaft ohnehin davon überzeugt, dass hier nicht gegen die Ukraine, sondern gegen den gesamten Westen gekämpft werde. Auf die Frage, wie sich der feste Glaube der Befragten an einen Sieg mit dem Ausbleiben nennenswerter militärischer Erfolge vereinbaren lässt, erklärte der Soziologe, dass sich das kollektive Bewusstsein im Gegensatz zum wissenschaftlichen Bewusstsein gerne mit Widersprüchen abfindet. Von den Befragten seien oft Aussagen wie „Wenn alle Ziele [der „Militäroperation“] erreicht sind, dann sind wir fertig“, zu hören. Was diese Ziele sind und wann sie erreicht sein werden, sei nicht unsere Sache.

Ein ebenfalls aus Russland zugeschalteter Lehrer, der nur seinen Vornamen Dmitri nennen wollte, berichtete von ähnlichen Paradoxen in seinem Umfeld. So äußerten Kollegen, die Unterrichtsmaterialien westlicher Verlage verwendeten, aggressiv antiwestliche Ansichten, ohne darin einen Widerspruch zu sehen. Eine Lehrerin habe sogar ihre eigenen Kinder ins Ausland geschickt, während sie selbst begeistert an pro-Kriegs-Veranstaltungen teilnehme.

Wenige Fragen können russische Weltbilder in Wanken bringen

Dmitri versicherte, dass seine ablehnende Haltung zum Krieg der Schulleitung bekannt sei, dies habe aber bisher keine Konsequenzen für ihn gehabt. Er habe sich auch bisher erfolgreich geweigert an schulischen Knüpf-Aktionen für Drohnen-Fangnetze teilzunehmen und sei genervt von den Videos im Schul-Chat, die zeigten, wie diese Netze ukrainische Drohnen abwehren. Der Lehrer weiß, dass er an dieser Schule mit seiner Haltung nicht allein ist, aber die Tatsache dass die Kriegsbefürworter in der Mehrheit sind, sei schon eine Belastung. Fast hoffnungsvoll merkt er an, dass das Weltbild solcher Kollegen wohl zusammenbreche, wenn man ihnen nur ein paar suggestive Fragen über die wahre Lage im Krieg und im Land stellen würde.

Der im Ausland lebende studentische Aktivist Timur Tuchwatullin wies darauf hin, dass die Militarisierung des russischen Bildungswesens mit der de facto staatlichen Übernahme aller Bildungseinrichtungen einhergehe. In manchen Regionen würden Studierenden von der Hochschulleitung genötigt, potentielle Zeitsoldaten für die Front zu gewinnen. Zwar trete nur eine Minderheit der Studierenden aktiv für den Krieg und die Regierung ein, während die Mehrheit gleichgültig sei. Für sie gelte aber der unbestreitbare Vorteil, dass sie ihre Ansichten nicht verbergen müssten. Wer sich innerhalb der Hochschulen offen gegen den Krieg ausspreche, müsse mit Entlassung rechnen, zu Beginn der Großinvasion seien sogar schon ganze vermeintlich illoyale Fakultäten geschlossen worden. Dafür seien neuer Lehrstühle und Fächer mit direktem militärischen Bezug eingerichtet worden, etwa für Feldmedizin.

Amtsenthebungen stellen den Klerus ruhig

Noch tiefer gilt die Abhängigkeit von Regierung und Staat für den orthodoxen Klerus, berichtete die im Exil lebende Journalistin Ksenia Lutschenko. Die Russisch-Orthodoxe Kirche sei politisch kein unabhängiges Subjekt und habe die Invasion vom ersten Tag an auf verschiedenen Ebenen unterstützt und gesegnet – von Militärseelsorgern bis hin zu militarisierten Ferienlagern für Kinder. Priester seien verpflichtet, bei jedem Gottesdienst ein von Patriarch Kirill selbst verfasstes Gebet „für den Sieg des Heiligen Rus (святой Руси)“ zu sprechen. Die wenigen Kleriker, die sich offen gegen den Krieg aussprachen, etwa der nun in Paris lebende Erzpriester Alexei Uminski, seien vom Dienst suspendiert bzw. ihres Amtes enthoben worden, was sich als hervorragende Präventivmaßnahme gegen jegliche innerkirchliche Dissidenz erwiesen habe.

Der Autor unseres Berichts ist russischer Staatsbürger, weshalb wir seinen Namen aus Sicherheitsgründen nicht veröffentlichen.

Das Briefing fand gemeinsam mit dem Medienprojekt “Land und Welt” (Страна и мир) im Rahmen des Projekts „Wege zur Aufarbeitung von Krieg und Diktatur“ der Deutschen Sacharow Gesellschaft statt.

Schlagwörter: Krieg · Militarismus · Russland · Siegestag · Ukraine-Krieg