„Wie konnte es so weit kommen?“

von | 27. Okt 2023 | Aktuell, Veranstaltung, Video

Auch knapp zwei Jahre nach Beginn des russischen Großangriffs auf die Ukraine ringen viele um Erklärungen, wie es dazu kommen konnte, dass sich Russland zu einem neo-totalitären System gewandelt hat, in dessen Zentrum ein fatalistischer Abnutzungskrieg steht. Bei einer von der Deutschen Sacharow Gesellschaft mitorganisierten Diskussion in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften mit dem eminenten russischen Soziologen Lew Gudkow suchten Teilnehmer nach historischen Ursachen – und sprachen offen über ihre eigenen Fehleinschätzungen.

 

Um Russland zu verstehen, müsse seine Sozialgeschichte – die „Psyche“ – studiert werden, erklärte Akademiepräsident Christoph Markschies im fast vollbesetzten Leibniz-Saal der Akademie: Das habe Lew Gudkow bereits vor langem erkannt. Der Soziologe, einer der wichtigsten Analytiker Russlands, untersucht seit Jahrzehnten für das Meinungsforschungszentrum Lewada die Stimmung in dem riesigen Land – auch in Zeiten des Angriffskriegs gegen die Ukraine. Trotz widriger Bedingungen – 2006 wurde das Zentrum zum „ausländischen Agenten“ erklärt – versucht der weiter in Moskau lebende Gudkow seinem Objektivitäts- und Wahrheitsgebot sowie dem Anspruch einer freien Wissenschaft treu zu bleiben.

Neben Gudkow saßen der Osteuropahistoriker Karl Schlögel sowie die DSG-Vorständin und Rechtsexpertin Caroline von Gall mit auf dem Panel, das die Sacharow Gesellschaft am 24. Oktober gemeinsam mit der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde (DGO) und der Akademie der Wissenschaften ausrichtete.

Ähnlich wie Markschies betonte Schlögel, dass Russland mit dem Verstand begriffen werden müsse – und nicht „nur mit dem Glauben“, wie es der Dichter Fjodor Tjuttschew einst formulierte: Das Lewada-Zentrum, das für eine mutige soziologische Selbstaufklärung stehe, sei dafür der beste Beweis. Alle Themen, „die uns bis heute in dramatischen Entwicklungen verfolgen“, seien in dem Buch des Gründers des Zentrums Jurij Lewada „Die Sowjetmenschen: 1989-1991: Soziogramm eines Verfalls“ (1993) angelegt gewesen. Gudkows Verdienst sei es, eine eigene soziologische Linie und Sprache entwickelt zu haben.

Scheiterte die Demokratie an der Beharrlichkeit des Apparats?

Der Bogen, der an diesem Abend gespannt wurde, zieht sich von der Perestrojka über die Etablierung eines fehlerhaften demokratischen Staats bis hin zum Rückfall in eine immer stärkere Konsolidierung des autoritären Systems. Ausgangspunkt bleibt der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine. Moderator Manfred Sapper von der DGO formulierte die zentrale Diskussionsfrage: „Wie konnte es so weit kommen?“

Gudkow argumentierte, dass der Geburtsfehler des heutigen Systems die Tatsache sei, dass die Sowjetunion nie zur Rechenschaft gezogen oder als verbrecherisch eingestuft worden sei. Stattdessen sei die grundlegende Institution des Putin-Regimes, der auf die Jahre des Roten Terrors zurückgehende KGB, in den 1990er Jahren nicht reformiert worden. Mit der Verfassungskrise von 1993 sei – trotz neuer Verfassung – nicht etwa ein konsequenter politscher Umbau erreicht worden, sondern eine Stärkung der Machtvertikale: Die Kontinuität des Apparates erwies sich als Ursache für das Scheitern des Aufbruchs.

Die bruchlose Kontinuität im Rechtssystem bestätigte auch Ko-Panelistin Caroline von Gall: 1993 sei das Verfassungsgericht suspendiert worden, weil es sich gegen Jelzin gekehrt hatte. Wegen angeblicher „Bedrohung“ von außen seien in den Folgejahren immer wieder Kompromisse zugunsten einer Stärkung des Staates gemacht worden.

„Die Demokraten bedienten sich anti-demokratischer Methoden“, sagte Gudkow. Schon vor Putin sei klar geworden, dass sich das sowjetische System reproduzieren kann. Die Enttäuschung darüber, dass das Ende des Sowjetregimes nicht automatisch für Wohlstand und ein besseres Leben gesorgt hatte – und die Ernüchterung über Jelzins Reformationsversuche und zweifelhafte Privatisierungen – hatte in der Bevölkerung zu Trotzreaktionen geführt: Die Menschen sehnten sich wieder nach einer starken Hand und Großmachtstatus wie in der Sowjetunion.

Der Rückfall begann schon vor 2004

Gudkow zufolge vollzog sich die erste Phase des konservativen Rückfalls mit dem Ende des demokratischen Prozesses, des politischen Pluralismus und der Parteienvielfalt. Stattdessen nahm die Kontrolle der mit Sonderrechten ausgestatteten Sicherheitsdienste zu – etwa des aus dem KGB hervorgegangenen Inlandsgeheimdienst FSB. Dass mit Putin gegen Ende der 1990er ein KGB-Mann auf der politischen Bühne erschien, überraschte die Soziologen kaum: „Das war keiner, der als Reformator in die Geschichte eingehen wollte.“

Ab 2004 verzeichnete das Lewada-Zentrum endgültig einen rückläufigen Prozess: Anti-westliche Propaganda wurde verbreitet und „abtrünnigen“ Nachbarstaaten wie Georgien, Ukraine oder Polen schlugen Drohgebärden als Abstrafung für ihre europäische Gesinnung entgegen. Das Imperium und traditionelle Werte sollten reinstalliert werden, die Verzerrung historischer Fakten avancierte zum Gegenstand der Geschichtspolitik, jede Form der kritischen Erinnerungskultur wurde verboten. Auch der als „Großer Vaterländischer Krieg“ verklärte Zweite Weltkrieg wurde als Ressource aktiviert: Mit dem „Sieg über den Faschismus“ legitimierte die russische Führung ihre Praxis, „anderen Staaten den eigenen Willen zu diktieren.“

All diese Tendenzen manifestierten sich in der anti-demokratischen Doktrin, die Putin erstmals auf der Münchener Sicherheitskonferenz 2007 vortrug: Die Restauration sowjetischer Institutionen und die Rückbesinnung auf militärische Macht gingen mit einem organisierten Massenkonsens einher. Putins Beliebtheitswerte stiegen immer dann, wenn er Soldaten entsandte – sei es im Tschetschenienkrieg, im anti-Terror-Kampf, zur Invasion Georgiens, auf die Krim oder in den Donbas. „Der (jetzige) Krieg wurde gut vorbereitet, die Bevölkerung auf ihn eingestimmt“, sagte Gudkow.

„Feindbilder und die Behauptung, Russland sei eine Großmacht, sind die Grundlagen für Putins Konsolidierungspolitik, begleitet von der Unterdrückung Unzufriedener.“ Längst sei jeder Widerstand niedergerungen, Wahlen durch und durch gefälscht. Das russische System, findet Gudkow, sei „zu einem „(Kitsch-)Totalitarismus“ degradiert. Statt weitreichender Repressionen und Straflager wie in der Sowjetunion setze der Staat nun auf Einflussnahme in Bereichen, die eigentlich nicht zu seinen Kompetenzen gehörten, wie Privatleben, Ethik und Kunst.

Das Straßburger Alarmsystem wurde nicht gehört

Die Verfassungsrechtlerin von Gall stimmte Gudkow zu, dass in die 1990er Jahre und weiter zurückgeblickt werden müsse, um den jetzigen Krieg zu verstehen. Die Verfassung von 1993 habe einen demokratischen Neuanfang impliziert, indem sie sich „ganz klar für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte“ ausgesprochen habe. Russlands Beitritt zum Europarat 1996 habe russische Menschenrechtlerinnen beflügelt, ihnen mittels Klagemöglichkeit beim Straßburger Gerichtshof Genugtuung verschafft. Putin sei aber auch die Möglichkeit gegeben worden, sich abzugrenzen und „über dem Recht“ zu stehen. Die Möglichkeit, Einfluss zu nehmen sei nicht ausreichend genutzt worden: „Straßburg war ein Alarmsystem, das nicht gehört wurde,“ kritisierte von Gall.

Putins Neo-Totalitarismus als „rätselhaftes Phänomen“

Ehrliche Selbstkritik übte daraufhin Schlögel, als er bekannte, dass er – im Gegensatz zu Gudkow – erst spät, nämlich 2014, gemerkt habe, dass es unter der Oberfläche anders läuft in Russland: „Warum bin ich nicht auf der Höhe der Zeit gewesen?“, fragte er. Die Anzeichen für eine Auflösung der sowjetischen Welt, die er als „das Ende des sowjetischen Jahrhunderts“ beschrieben hatte, habe er fälschlicherweise positiv gedeutet.

Dem Historiker Schlögel reichte Gudkows Erklärung nicht, dass allein die Kontinuität des repressiven Apparats schuld sei für das Scheitern der russischen Demokratie. Er forderte eine Diskussion über Neo-Totalitarismus: „Das, was sich entwickelt hat, ist nicht einfach eine Weiterführung des alten Totalitarismus, es ist ein rätselhaftes, neues Phänomen.“ Putinismus sei ein eklektischer Mix aus Zarentum, Mafia, Autoritarismus, Faschismus und „Raschismus“ – und müsse im Ganzen analysiert werden.

Schlögel zufolge hat es eine solche Kombination von Alt und Neu geschichtlich nie gegeben. Als Beispiel nannte er die Gleichzeitigkeit einer „prämodernen orthodoxen Welt im Kerzenschimmer der Erlöserkirche“ und professionellem Massen-Entertainment wie Sport-Meisterschaften in Sotschi oder Parteitage, die sich als Mischung aus NS-Reichsparteitag und amerikanischem Wahlkampf präsentieren.

Was gerade passiere, sei jenseits des Vorstellbaren: „Wir sind fassungslos und sprachlos, weil wir keine Sprache für dieses Phänomen haben.“

Als Sapper versuchte, das Spezifikum des heutigen Russlands zusammenzufassen, konkretisiert sich ein düsteres Bild: fehlende Aufarbeitung der Vergangenheit; kein Bruch mit kriminellen Praktiken von Organisationen wie der Tscheka, dem NKWD, KGB bzw. FSB und der Armee; eine amorphe Gesellschaft, die die Schwierigkeiten der Transformation mit Großmachtgedanken kompensiert. Das, was auch als „russischer Komplex“ bezeichnet werden kann, produziert beliebig Feindbilder – und dient dem Staat als Mittel zur Konsolidierung.

Die Zensur in Russland umgehen können nur 20 Prozent

Der Soziologe Gudkow erklärte auch, wieso die Zustimmungsrate für den Krieg auf hohem Niveau bleibt: Laut einer Lewada-Umfrage seien 17 Prozent der Menschen eindeutig für den Krieg, weitere 38-45 Prozent sähen ihn negativ, meinten aber, er müsse nun zum Ende geführt werden, während 53-55 Prozent sofortige Friedensverhandlungen wünschten – aber nur unter den Bedingungen, dass besetzte Gebiete unter russischer Führung blieben und die Ukraine nicht der NATO beitrete. Die „Spezialoperation“ werde zwar zunehmend als ermüdend und sinnlos wahrgenommen, aber nur konstante 18-22 Prozent der Menschen könnten die Zensurblockade umgehen und stünden dem Krieg kritisch gegenüber. Dieser „organisierte Konsens“ sei auf einen effektiven Zensur- und Propagandaapparat zurückzuführen. So teile sich die russische Gesellschaft in zwei Segmente: das TV-Propaganda-Publikum, und das der sozialen Medien.

Gudkow zufolge wäre „die optimale Variante“ eine Niederlage Russlands: Diese würde wohl Putin seine Legitimation kosten und „die russische Großmacht zu Fall bringen.“ Aber dazu werde es nicht kommen, meint der Soziologe: „Das Regime wird den Abnutzungskrieg bis zum Ende führen, denn die physische Existenz Putins und seiner Umgebung steht auf dem Spiel.“

Diesen düsteren Einschätzungen schloss sich Schlögel an: Putin werde alles tun, was in seinen Kräften stehe, um die Ukraine „kaputt zu bomben“, was ihm nicht gelingen werde, „weil die Ukraine sehr stark ist.“ Wenn die erhoffte russische Niederlage auch nicht Ende des russischen Systems sein würde, so doch wenigsten der Figur Putins.

Mit Blick auf Gudkow meinte Moderator Sapper zum Abschluss: „Aufgabe der Soziologen ist es nicht Hoffnung zu geben – das machen die Theologen –, sondern die Gesellschaft zu analysieren und in ihrem Zusammenhang darzustellen.“

 

In der neuesten Ausgabe der Zeitschrift „Osteuropa“ ist ein Essay von Lew Gudkow erschienen, der viele der angesprochenen Paradoxien behandelt (Der „Führer der Nation“ – Putin und das Kollektivbewusstsein in Russland, in: Menetekel. Der Krieg, Autoritarismus und Ideologie, Osteuropa, Heft 6-6/2023).

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Die Veranstaltung fand im Rahmen des vom Auswärtigen Amt unterstützten Projekts „Wege zur Aufarbeitung von Krieg und Diktatur“ der Deutschen Sacharow Gesellschaft statt.

 

 

Foto: Lew Gudkow und Caroline von Gall auf dem Podium der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften.

(Copyright: BBAW/Maxie Liebschner)

Schlagwörter: Lewada-Zentrum · Russland · Ukraine-Krieg