“Untätigkeit heißt Mittäterschaft. Auch die Russen müssen Verantwortung für den Krieg in der Ukraine übernehmen, selbst wenn sie nicht direkt an Putins Aggression beteiligt sind“, sagte die ukrainische Journalistin Anastasia Magasowa auf einer Podiumsdiskussion der Deutschen Sacharow Gesellschaft bei der Berliner Tageszeitung „taz“.

Von Tigran Petrosyan

Über diese und andere Fragen diskutierte Barbara Oertel, Ressortleiterin der Auslandsredaktion der taz mit Journalistinnen, Politikwissenschaftlern und Historikern aus Kyjiw, Moskau, Berlin und Tiflis. Die vom Auswärtigen Amt geförderte Veranstaltung stellte einen Versuch da, auszuloten, inwieweit Dialog zwischen Russen und Ukrainern noch möglich ist, der vor allem in der Ukraine aber auch in Russland jeden Tag Opfer fordert. Rund 280 Personen verfolgten die Diskussion, etwa 80 davon im Saal, der Rest online.

Woher kommt die Gleichgültigkeit vieler Russinnen und Russen gegenüber den Verbrechen, die in ihrem Namen in der Ukraine geschehen? Werden sie jemals in der Lage sein, ihre Mitverantwortung anzunehmen?

„Wir in der Ukraine verstehen immer noch nicht, warum die Russen nicht auf die Straße gegangen sind, als die ersten Raketen Charkiw, Kyjiw und Odessa erreicht haben“, sagte die aus Kyjiw zugeschaltete Magasowa. Für sie und ihre ukrainischen Landsleute ist es eine realistische Option, der Herrschaft Wladimir Putins etwas entgegenzusetzen, unabhängig davon, über wie viele Machtinstrumente sein Regime verfügt. Als Beispiel nannte Magasowa den Euromaidan, bei dem 2013/14 Hunderttausende in der Ukraine gegen Wiktor Janukowytsch auf die Straße gingen und den Präsidenten im Februar 2014 stürzten. Ukrainische Sicherheitskräfte töteten etwa einhundert Menschen. Janukowytsch, den Putin stets unterstützt hatte, setzte sich nach Russland ab.

Nicht nur in der Ukraine hatten die Menschen gehofft, dass eine bedeutende Zahl von Menschen in Russland gegen den Angriffskrieg protestieren würde. Hätte das den Kriegsverlauf beeinflussen können? Es gab mutige Menschen in Russland, die das getan und damit ihre Freiheit sowie die Freiheit ihrer Familie riskiert haben. Doch die Mehrheit war nicht bereit, sich gegen den russischen Autoritarismus zu wehren und lässt nach wie vor zu, dass grausame Verbrechen sowohl im Nachbarland als auch in der eigenen Heimat verübt werden.

Menschen zum Schweigen zu bringen sei keine neue Praxis in Russland, sagte der Moskauer Historiker Sergej Lukaschewski. „Der Kreml hat die vollständige Kontrolle über den politischen Prozess in Russland. Die demokratischen Institutionen wurden buchstäblich vernichtet. Es fehlt an Protestmöglichkeiten jeglicher Art“. Seine Argumentation begründete Lukaschewski nicht nur mit dem mit Protesten verbundenen Risiko, dass Demonstranten und Aktivistinnen ihre Jobs verlieren, erpresst, gefoltert oder ins Gefängnis gesperrt werden.

“In der russsichen Gesellschaft gibt es keine Solidarität”

„In der russischen Gesellschaft gibt es keine politische Solidarität. Es fehlen die gesellschaftlichen Strukturen, die jedem Bürger und jeder Bürgerin das Gefühl geben, dass, wenn eine Person auf die Straße geht, auch die anderen mitmachen“, sagte Lukaschewski.

Greg Judin bezeichnete die russische Gesellschaft als „atomisiert“. Er leitet die Abteilung für Politische Philosophie an der Moskauer Schule für Sozial- und Wirtschaftswissenschaften. Er teilt die Meinung seines Kollegen Lukaschewski, dass es seit über 20 Jahren kein kollektives und solidarisches Handeln der Gesellschaft in Russland gibt, weil das Regime diesen Tendenzen systematisch blockiert habe.

„Der russische Anführer trifft eine Entscheidung und diese Entscheidung wird von der Bevölkerung akzeptiert. Die Menschen tun so, als ob diese Entscheidung sie nichts angeht. Sie halten sich nicht für kompetent, diese Entscheidung der Regierung in Frage zu stellen“, erklärte Judin.

Die Menschen in Russland lebten in einer Informationsblase, in der das russische Staatsfernsehen die Welt erkläre. Für frei denkende Menschen sei im heutigen Bildungssystem kein Platz, stellten die beiden russischen Experten fest. Daher sei es wichtig, im russischen Exil Strukturen für eine proaktive Zivilgesellschaft aufzubauen, damit die russischen Communities Alternativen zur Propaganda aus Moskau hätten, sagte Judin und nahm damit Äußerungen aus dem Publikum auf.

„Stillschweigendes Einverständnis“

Doch für die Ohren der ukrainischen Gesellschaft klingt das nach einer Rechtfertigung der Passivität in der russischen Gesellschaft, widersprach Magasowa. Auch ihr georgischer Kollege Sandro Gvindadze kritisierte das „stillschweigende Einverständnis der russischen Bevölkerung“.  Der Journalist aus Tiflis zog Parallelen zwischen dem Krieg in der Ukraine heute und dem Krieg in Georgien 2008. Als die russischen Truppen in Georgien einmarschierten und bis auf etwa 30 Kilometer vor der Hauptstadt Tiflis vorgedrungen seien, habe die russische Gesellschaft geschwiegen.

Heute herrscht in Georgien wieder Unruhe. „Russland stellt eine große Bedrohung und Gefahr für die Demokratie unseres Landes dar. Menschen in Georgien haben heute wieder Angst, dass sich die Ereignisse von 2008 wiederholen“, sagte Gvindadze. Seine Erklärung: „Sowohl Georgien als auch die Ukraine haben einen langen Weg demokratischer Prozesse hinter sich. Bürgerinnen und Bürger nehmen durch Wahlen auf die politische Situation in ihren Ländern Einfluss, was im postsowjetischen Raum kein Selbstverständlichkeit ist. Und das gefällt dem Kreml nicht“, sagte er.

Europäische Perspektive als einziger Ausweg

Auch deswegen gingen Georgierinnen und Georgier derzeit auf die Straße, um für eine europäische Perspektive zu demonstrieren, das heißt den Erhalt des Kandidatenstatus als Vorstufe für einen EU-Beitritt.  Das war bereits vor 14 Jahren der Fall, als Georgien damit gerechnet habe, der NATO beizutreten. Doch viele Mitgliedsländer, darunter Deutschland, hätten diesen Prozess blockiert. „In Georgien waren die Menschen vom Westen enttäuscht. Und Russland konnte dieses Narrativ für seine Propaganda nutzen, nach dem Motto: Der Westen braucht euch nicht“, sagte Gvindadze und fügte hinzu: „Eine europäische Perspektive bleibt nach wie vor der einzige Weg, um Freiheit und Demokratie im postsowjetischen Raum zu sichern.“

Auch der Westen sollte Verantwortung für den Krieg in der Ukraine übernehmen. Darin waren sich die Experten einig, obwohl Russland für diesen Krieg die Hauptschuld trägt. Die eigene Mitverantwortung werde im Westen wenig reflektiert, weil gemeinsame Geschäftsinteressen mit Russland Vorrang hätten.

Das Schlusswort der über zweistündigen Veranstaltung gehörte Anastasia Magasowa. Das ukrainische Volk habe seine Angst vor Russland überwunden und leiste bisher erfolgreichen Widerstand gegen die russische Armee, sagte sie. Dafür gab es Applaus, der wohl auch der gesamten Veranstaltung galt. Denn wenn in Kriegszeiten wie diesen Menschen aus Russland und der Ukraine zusammenkommen um miteinander zu diskutieren, ist allein schon zweifellos ein positives Signal. Nichtsdestotrotz wurde deutlich, wie schwierig der Austausch ist. Bis sich daran etwas ändert, ist es noch ein weiter Weg.

Tigran Petrosyan ist freier Journalist. Er hat in Jerewan, Mainz und Berlin Orientalistik; Geschichts- und Kulturwissenschaften studiert und in Berlin über Integration, Migration und Medienwahrnehmung promoviert. Er schreibt vor allem für die taz, ZEIT-ONLINE und das Amnesty Journal.

Die Veranstaltung wurde vom Auswärtigen Amt unterstützt