Welche Rolle kann eine demokratische Verfassung spielen, wenn Willkür und Diktatur verhindert werden sollen? In Russland hat die seit 1993 gültige Verfassung so ziemlich komplett versagt. Der Glaube, dass dieses Dokument die russische Demokratie schützen kann, hat sich spätestens 2020 als Illusion entpuppt, als Wladimir Putin einfach so vom Parlament die Begrenzung seiner Amtszeiten aufheben ließ. Dennoch können sich Experten vorstellen, auf der Basis dieser Verfassung das Putin-Regime eines Tages zur Rechenschaft zu ziehen.
Grafik: Andrei Samokhotkin
Doch auch wenn die russische. Verfassung Diktatur und Krieg nicht verhindern konnte, ist sie nicht ohne Bedeutung im russischen System. Der Rechtswissenschaftler William Partlett hat darüber ein Buch geschrieben: „Why the Russian Constitution Matters“ (Warum die russische Verfassung zählt“) ist gerade in Europa erschienen. Mit Partlett sowie mit Rechtsexperten aus Russland und Deutschland haben wir in Berlin über das Thema diskutiert. Moderiert wurde das Gespräch von unserer Vorständin Caroline von Gall, die selber Verfassungsrechtlerin ist.
Für Partlett, der an der Universität Melbourne unterrichtet, ist die russische Verfassung ein Paradox: Auf der einen Seite bilde sie die normative und rechtliche Stabilität für ein Regime, das einen blutigen Angriffskrieg führt. Andererseits seien ihre ersten beiden Kapitel nach wie vor „ein nahezu perfektes Beispiel für einen liberal-demokratischen Verfassungstext“. Außerdem seien in dem Grundgesetz die wichtigsten liberalen Institutionen wie Parlament und Verfassungsgericht festgeschrieben.
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Die wesentliche Schwäche der russischen Verfassung ist Partlett zufolge, dass sie dem Präsidenten zu viele Befugnisse mit keinerlei Beschränkungen einräumt. Statt „Garant“ (das dank des Verfassungstextes in den russischen Wortschatz eingegangen ist) sei „Monarch“ eine treffendere Umschreibung für das Staatsoberhaupt. Für Partlett ist dieses Machtsystem „eine Art zentralisierter Liberalismus“. Diese Machtkonzentration sei historisch bedingt: In den frühen 1990er Jahren schien eine starke Präsidialmacht – ein weiteres Paradox – die einzige Möglichkeit, die junge Demokratie zu schützen. Doch die Zentralisierung der Macht tendierte zum Herrschaftsinstrument, was sich in der Amtszeit des nächsten Präsidenten manifestierte (die ja noch andauert!).
Der Historiker Tobias Rupprecht (Freie Universität Berlin) erinnerte daran, dass sowjetische Verfassungen ebenfalls als „gut“ galten, auch wenn sie gar nicht demokratisch waren – so hätten Dissidenten mit dem Ruf „Achtet die Verfassung“ an den 1977 verabschiedeten Text gemahnt.. Aber auch sie habe nicht verhindert, dass Tyrannen oder Generalsekretäre regierten.
Rupprecht merkte auch pessimistisch an, dass eine Dezentralisierung des Systems keine Garantie für eine Demokratisierung sei. Versuche, Russland zu dezentralisieren seien bereits im 19. Jahrhundert folgenlos geblieben. Und dann habe die Demokratie der 1990er Jahre auch die Russen nicht daran gehindert, massenhaft für Neofaschisten zu stimmen oder (später) viermal denselben Präsidenten zu wählen.
Basis für eine künftige Abrechnung mit dem Putin-Regime?
Der russische Verfassungsrechtler Nikolai Bobrinsky, der derzeit an der Berliner Humboldt-Universität promoviert, argumentierte wiederum, dass die Zentralisierung der Macht ein Stück weit Ehrlichkeit darstellt – jedenfalls verglichen mit der Sowjetunion: Die heutige Verfassung identifiziere eindeutig, wer der oberste Chef und wer für alles verantwortlich ist. Dagagen sei das sowjetische Staatsoberhaupt, der Vorsitzende des Präsidiums des Obersten Sowjets, in Wahrheit machtlos gewesen – die Macht damals war in den Händen des Generalsekretärs des Zentralkomitees der kommunistischen Partei konzentriert, was in der Verfassung in keiner Weise festgelegt war.
Natürlich hätten weder Geist noch Buchstaben der heutigen Verfassung an der Gesetzlosigkeit der letzten Jahrzehnte etwas ändern können. Dennoch meinte Bobrinsky, dass sie in Zukunft eine Rolle spielen könnte – wenn es darum gehe, die derzeitige russische Führung zur Rechenschaft zu ziehen. Dabei brauche man sich nur auf die Kapitel 1 und 2 („Grundlagen der Verfassungsordnung“ sowie „Rechte und Freiheiten der Menschen und Bürger“) stützen. Diese basieren im Gegensatz zu totalitären Verfassungen auf ideologischer und politischer Vielfalt und erkennen das Individuum, seine Rechte und Freiheiten als oberste Werte an.
Der Einfluss der Dissidenten
In der Diskussion erinnerte der Historiker und ehemalige Leiter des Moskauer Sacharow-Zentrums Sergej Lukaschewski auf die Rolle sowjetischer Dissidenten bei der Entstehung des Verfassungstextes. Andrei Sacharow, Galina Starowoitowa und Sergei Kowaljow seien inoffizielle „Gründungsväter“ gewesen. Zwar hätten sie keinen direkten politischen Einfluss gehabt, dennoch sei der „ideologische Teil“ (Kapitel 1 und 2) tatsächlich unter ihrem starken Einfluss entstanden, während die Kapitel, die das reale politische System beschreiben, von den damaligen Machthabern stammte.
Lukaschewski fügte hinzu, dass die Verfassung von 1993 den blutigen Konflikt zwischen Boris Jelzin und dem Parlament quasi als Geburtstrauma in sich trage. Und Partlett erklärte, dass die Dissidenten zwar den Schutz der Grundrechte stärkten, aber übersehen hätten, wie die Macht im Staat organisiert sei. Denn Demokratie sei nur mit einem ausgewogenen Machtsystem möglich, das die Dominanz einer Institution (des Präsidenten) über die anderen ausschließe.
Die Verfassung von 1993 wurde unter Jelzin geschrieben – und orientierte sich in gewisser Weise an der Persönlichkeit des ersten russischen Präsidenten. Bobrinsky fand dafür auch lobende Worte. Zwar seien die jüngste Kritik an den 1990er Jahren berechtigt, doch die Leute aus dem Umfeld Jelzins hätten damals aufrichtig einen normalen Staat schaffen wollten, um in die zivilisierte Welt zurückzukehren. Sie wollten ein „westliches System“ in Russland schaffen – etwas, mit dem man gut leben konnte. Aber sie waren in Russland in der Minderheit und mussten feststellen, dass ein solches System auf demokratischem Wege nicht durchführbar war.
Die Lehre aus dieser Geschichte ist laut Partlett, dass eine Verfassung nicht mit Blick auf einen bestimmten Führungsfigur geschrieben werden könne. „Man kann sich eine Zeit lang auf einen guten Führer verlassen, der die gleichen Werte vertritt wie man selbst, aber es kann passieren, dass danach eine andere Person an die Macht kommt. Wenn man eine stabile, verlässliche Grundlage für den Schutz von Grundrechten haben will, muss man über die Struktur des Staates nachdenken.“
Eine gute Verfassung allein reicht nicht
Laut Partlett muss eine Verfassung nicht einmal ein Text im Wortsinn sein, sondern vielmehr ein „Signalmechanismus“ für eine breite öffentliche Debatte darüber, was eine gute Form der politischen Organisation ist. Aber keine gute Form funktioniere ohne Inhalt – ohne Institutionen sowie ohne ein System der Machtbalance.
Einig waren sich die Diskutierenden, dass eine Verfassung allein keine Demokratie garantiert – ohne andere demokratische Institutionen, wie ein funktionierendes Parlament, eine freie Presse und eine unabhängige Zivilgesellschaft geht es nicht.
Eine weitere Schlussfolgerung war, dass diktatorische Regimes im 21. Jahrhundert gelernt haben, demokratische Verfassungen effektiv zu nutzen, um ihre persönliche Macht zu konsolidieren. Putin, der sich selbst als Jurist positioniert und gern öffentlich auf Gesetzestreue pocht, nutzte formal demokratische Slogans, um die Macht an sich zu reißen. Indem Putin die Verfassung benutze, um eine trügerische Form autoritärer Legitimität zu schaffensei es ihm gelungen, einen „kosmetischen Konstitutionalismus“ zu schaffen.
Angesichts des wachsenden Drucks auf liberale Demokratien muss heute mit soetwas in vielen Ländern Europas gerechnet werden. Populismus ist heute die größte Herausforderung und eine Gefahr für die etablierten Demokratien. Die Lehren aus dem Versagen der russischen Verfassung von 1993 scheinen in dieser Hinsicht erschreckend aktuell..
Übertragung aus dem Russischen: DSG
Partletts Buch kann beim britischen Verlag Bloomsbury bestellt werden.
Die Veranstaltung haben wir im Rahmen des vom Auswärtigen Amt unterstützten Projekts „Wege zur Aufarbeitung von Krieg und Diktatur“ durchgeführt.