Jelena Bonner – viel mehr als nur Sacharows Witwe

von | 20. Jul 2023 | Aktuell, Jelena Bonner, Video

Am 15. Februar 2023 wäre Jelena Bonner 100 Jahre alt geworden. Die Weltkriegsveteranin und Ärztin war nicht nur Andrej Sacharows Witwe, sondern eine eigenständige Denkerin, die sich entschieden für die Rechte ihrer Mitmenschen einsetzte. Wie gleichberechtigt Bonner und Sacharow miteinander umgingen, wie der KGB die antisemitische Karte gegen sie ausspielte und wie realistisch Bonner bis zu ihrem Tod russische imperialistische Ambitionen einschätzte, darüber berichtet der Philologe Gasan Gussejnow in einem Interview der Deutschen Sacharow Gesellschaft (DSG).

 

Jelena Bonner hatte es in der Sowjetunion nicht leicht. Sie wurde verfemt, weil sie eine Frau war, weil sie jüdisch war, weil sie eine Dissidentin war und weil sie Verwandte im westlichen Ausland hatte, konstatiert Gussejnow in dem Video-Interview, das von DSG-Vorständin Uta Gerlant geführt wurde (zur Aufzeichnung).

Gussejnows Hauptthesen:

  • Die spätsowjetische Gesellschaft war stark von männlichem Chauvinismus geprägt, und die Ehefrauen von Prominenten wurden oft sehr negativ wahrgenommen, etwa Raissa Gorbatschowa. „Männer machen seriöse Sachen, und Frauen mischen sich nur ein“, war eine gängige Vorstellung, die bis heute in der russischen Gesellschaft vorkommt.
  • Bonner wurde indirekt vorgeworfen, ihren Mann, den berühmten Physiker und Erfinder der größten Waffe der Welt (die Wasserstoffbombe), „vom rechten Weg abgelenkt“ zu haben. Sie wurde als Störerin gesehen, die Sacharow „Menschenrechte und solchen Quatsch“ einflüsterte.
  • Auch ich (Gussejnow) glaubte damals, dass Bonner nur die Frau von Andrej Sacharow war. Dabei war sie diejenige, die weiter blickte als er. Sacharow glaubte immer, dass man einen neuen Staat (im Rahmen der Sowjetunion) aufbauen konnte. Und er dachte wie viele von uns, dass es möglich sei, den Konflikt zwischen Armeniern und Aserbaidschanern durch Dialog zu lösen. Bonner hat ihm gezeigt, wie tief er irrte.
  • Bonner spielte eine sehr widersprüchliche Rolle in der sowjetischen Dissidentenbewegung: Einerseits war sie eine wichtige Person, vor allem wegen ihrer Kontakte in den Westen. Aber die Dissidentenbewegung war sehr stark vom Rest der Bevölkerung abgeschnitten. Ihre Mitglieder wurden wegen ihrer Verbindungen in den Westen als Außenseiter („nicht unsrige“) empfunden.
  • Der KGB versuchte lange Zeit, aus Sacharow einen Juden zu machen: So lancierte der Geheimdienst einen Witz, in dem Sacharow der jüdische Familienname „Zuckerman“ zugeschrieben wird. „Der gute Russe Sacharow wurde von seiner jüdischen Frau genommen, die hat ihre amerikanischen Verwandten und amerikanischen Interessen durch diesen großen Mann dann durchgeführt. Das war der Tenor, nicht nur von KGB-Leuten, (auch) ganz tief in der Gesellschaft! „Die sind Fremde, die gehören nicht zu uns“! Ganz ähnlich wird heute kolportiert, dass die „Ukrainer von den Amerikanern gekauft“ seien.

Gassan Gussejnov (*1953 in Baku) ist promovierter Altphilologe und habilitierte sich in Russischer Philologie. Er war viele Jahre wissenschaftlicher Mitarbeiter der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen. In den 1980er Jahren publizierte er zu dem Konflikt zwischen Aserbaidschan und Armenien um Bergkarabach. Angesichts der dortigen Gewalt lud ihn Andrej Sacharow 1987 zu sich nach Hause ein. Beide verfassten einen gemeinsamen Text zu dem Konflikt. In dem Interview berichtet Gasan Gusejnov, wie er durch Sacharows Einladung Jelena Bonner kennenlernte. Er lebt in Leipzig.

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Das Interview fand im Rahmen des vom Auswärtigen Amts unterstützten Projekts „Dialoge in der Turbulenzzone” statt.

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