Jelena Bonner, undatiertes Foto aus den 1960er Jahren; Bild: Sacharow-Zentrum
Am 15. Februar wäre die russische Dissidentin Jelena Bonner hundert Jahre alt geworden. Ihr historisch präziser und furchtloser Blick ist heute aktueller denn je..
Von Marko Martin
Ein Jahr vor ihrem Tod im Juni 2011 unterzeichnete die damals bereits 87-jährige Jelena Bonner ein russisches Oppositions-Manifest mit dem Titel „Putin muss gehen“. Am Ende ihres langen Lebens, nunmehr in den USA lebend, musste sie sehen, wie die Repression – und mit ihr einhergehend Lüge und Propaganda – in ihrer russischen Heimat erneut immer schamloser und gewalttätiger wurde.
Jelena Bonner, die am 15. Februar 100 Jahre alt geworden wäre, hatte dabei schon frühzeitig den naiven westlichen Glauben kritisiert, nach dem mit dem Ende der Sowjetunion 1991 geradezu automatisch „alles gut“ werden würde. Sie war Gründungsmitglied der Menschrechtsorganisation „Memorial“ und ihr fortgesetztes Eintreten für rechtstaatliche Normen zeugte davon, dass Dissidenten nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion keineswegs ein „Auslaufmodell“ waren, wie ihre Feinde – und manche ignorante „Beobachter“ aus dem Westen – nicht müde wurden zu behaupten.
Mörderische Realitäten einer Jugend in der Sowjetunion
Jelena Bonner, 1923 in einer unwirtlichen Stadt in der turkmenischen Wüste geboren, hatte lebenslang Erfahrungen gesammelt, wie mörderische Realitäten geschaffen und gleichzeitig versucht wurde, jegliche Zeugenschaft unmöglich zu machen. Als ihr armenischer Adoptivvater 1938 erschossen wird und ihre jüdische Mutter „als Verwandte von Vaterlandsverrätern“ in den Gulag kommt, ist sie gerade einmal 15 Jahre alt. Nach Hitlers Überfall auf die Sowjetunion meldet sie sich freiwillig als Krankenschwester, bei deutschen Angriffen auf Sanitätszüge wird ihr Augenlicht irreparabel beschädigt. In dieser Zeit verhungert ihre geliebte Großmutter Tatiana während der Leningrader Blockade.
1945 im Rang eines Leutnants ehrenhaft aus der Roten Armee entlassen, trifft sie ein Jahr später ihre Mutter wieder, die die stalinistischen Lager überlebt hat. In den Ausweisen der beiden steht – in der Rubrik Nationalität – „jüdisch“, was spätestens seit Stalins Nachkriegs-Kampagnen gegen „zionistische Verräter und Kosmopoliten“ und die von ihm behauptete „Ärzte-Verschwörung“ – die jüdischen Medizinern das Leben kostete – erneut potentielle Lebensgefahr bedeutete. In ihrem 1991 erschienenem Buch „Mütter und Töchter“ wird Jelena Bonner eindrucksvoll und präzise über jene Zeit Bericht geben.
Von der Parteipresse antisemitisch und misogyn verleumdet
Obwohl sie die Erlaubnis erhält, Medizin zu studieren und anschließend als Kinderärztin arbeitet, lässt sie sich nicht vom Regime vereinnahmen; 1970 trifft sie den Physiker Andrej Sacharow, der als „Vater der sowjetischen Wasserstoffbombe“ bereits einer der prominentesten Dissidenten der UdSSR ist. Nach der Heirat ist sie dann freilich keineswegs nur „die Frau an seiner Seite“, sondern eine souveräne Partnerin im Kampf für die Menschenrechte. Was im übrigen so manchen missfiel: Angepassten Wissenschaftlern, die für Sacharows „Politisierung“ Jelena Bonner verantwortlich machten, ebenso wie natürlich der sowjetischen Staats- und Parteipresse, die ab da Bonner über die Jahre hinweg in antisemitischer und misogyner Diktion verleumden wird. (Einige männliche Dissidenten fremdelten freilich anfangs auch ein wenig mit ihr; was sie sich selbst als „Entschlossenheit“ gutschrieben, war in solcher Perspektive „Sturheit“, sobald es von einer Frau kam.)
Jelana Bonner stellt den Kontakt zu westlichen Korrespondenten her, informiert über politische Häftlinge in Breschnews Sowjetunion und hilft Ende der 1970er Jahre auch dabei, das Manuskript von Wassili Grossmans postum veröffentlichten Jahrhundertroman „Leben und Schicksal“ ins Ausland zu schmuggeln. Als Andrej Sacharow 1975 den Friedensnobelpreis erhält, jedoch nicht ausreisen darf, hält sie an seiner Stelle die Rede in Oslo. Anfang der 1980er Jahre folgt sie ihm dann in die Verbannung nach Gorki – und versucht weiterhin die Kontakte mit dem Westen aufrecht zu erhalten.
Moskauer Brutalität und westliche Ignoranz
Allerdings: Hatte man im Westen wirklich verstanden, dass Dissidenz in der spät-totalitären Sowjetunion nicht allein ein „Ostthema“ war und noch nicht einmal lediglich eine Frage der individuellen Moral? Der unermüdlichen Archiv- und Recherchearbeit des Publizisten Michael Hänel ist zu verdanken, dass heute nicht in Vergessenheit geraten ist, welche Ignoranz damals auch im Westen herrschte. So belehrte etwa Marion Gräfin Dönhoff in der „Zeit“ vom 7. September 1973 die sowjetischen Dissidenten, die auf Einhaltung verfassungsrechtlicher Normen drangen, mit bemerkenswerter emotionaler Kälte darüber, dass die Bonner Entspannungspolitik „wohl doch einleuchtender“ sei: „Für jene kleine Gruppe kritischer Intellektueller in der Sowjetunion ist das eine tragische Erkenntnis.“
In der DDR hingegen erschien in den 1980er Jahren die Übersetzung des KGB-Machwerks „CIA contra UdSSR“, in dem u.a. Jelena Bonner der ausländischen Agententätigkeit bezichtigt wurde. (Deprimierende Kontinuität: Das seit 1996 existierende Moskauer Sacharow-Zentrum musste im März 2022 seine Arbeit einstellen, wegen angeblicher Verstöße gegen seinen Status als „ausländischer Agent“.)
Engagement deutscher Intellektueller
In jener Zeit waren es vor allem die Schriftsteller Heinrich Böll und Jürgen Fuchs sowie Politiker der Grünen wie Petra Kelly, Eva Quistorp und Ralf Fücks, die sich dafür engagierten, dass Menschen wie Jelena Bonner auch hierzulande wahrgenommen wurden. Im Jahr 1984 ist es der grüne Abgeordnete Milan Horacek, der im Bundestag aus den antisemitischen Infamien der sowjetischen Presse zitiert, in der Bonner „als kleine verbitterte und habgierige Person“ karikiert ist: „Das kann von uns nur als wirklich reaktionäre, rassistische und sexistische Kampagne begriffen werden. Frau Bonner ist Jüdin, und wir möchten hier noch einmal besonders unsere Solidarität mit Jelena Bonner zum Ausdruck bringen.“
“Was nicht gesellschaftlich diskutiert und institutionell aufgearbeitet wird, droht irgendwann mit einer Wiederholung”
Als Jelena Bonner im Jahr 2000 den Bremer Hannah-Arendt-Preis erhielt, erinnerte der ehemalige DDR-Bürgerrechtler Gerd Poppe daran, wie gegenwärtig und relevant das fortgesetzte Engagement für Menschenrechte ist. Bereits 1994 nämlich hatte Bonner mit dem vermeintlich reformorientierten Präsidenten Jelzin gebrochen und die Gräuel des (ersten) Tschetschenien-Krieges angeprangert; später wird sie zu den frühen Kritikern von Wladimir Putins neo-imperialer Politik gehören.
Der Autor dieses Text hatte das große Glück, die eindrucksvolle Jahrhundertzeugin zweimal zu treffen: 1990 in Moskau, ein Jahr nach Andrej Sacharows Tod, und dann 1992 in Berlin. „Sie müssen entschuldigen, dass ich hinter den dicken Brillengläsern so grimmig zu blicken scheine. Aber das ist die Augenverletzung aus dem Krieg…“ Worauf kristallklare Analysen folgten über die fortgesetzte Gefahr, die von der mangelnden Aufarbeitung der kommunistischen Verbrechen ausging. „Was nicht gesellschaftlich diskutiert und institutionell aufgearbeitet wird, droht irgendwann mit einer Wiederholung – auch wenn der Westen es weiterhin vorzieht, nicht genau hinzuschauen.“
Jelena Bonners präziser Blick ist seitdem keineswegs „historisch“ geworden, sondern heute wohl nötiger denn je. Ermutigend bleibt, dass es Menschen wie sie gegeben hat – unprätentiös, menschlich und furchtlos zugleich.
Marko Martin ist freier Schriftsteller und lebt in Berlin.