Russen prangern „systematische Kriegsverbrechen“ an Ukrainern an

von | 5. März 2025 | Aktuell

Zum ersten Mal seit der Großinvasion von 2022 haben russische Menschenrechtler in der Ukraine mit Betroffenen des russischen Angriffskrieges gesprochen. Sie haben dabei systematische Verbrechen der russischen Streitkräfte festgestellt. Unsere Vorständin Uta Gerlant fasst zusammen, was die russischen Aktivisten kürzlich nach ihrer Rückkehr in Berlin berichtet haben.
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Katja Petrowskaja (Moderation), Oleg Orlow, Natalia Morosowa und Wladimir Malychin (v.l.) während der Pressekonferenz in Berlin

In der zweiten Januarhälfte 2025waren Oleg Orlow, Natalia Morosowa und Wladimir Malychin vom Memorial-Zentrum für Menschenrechtsschutz gemeinsam mit Jewhen Sacharow von der Charkiwer Menschenrechtsgruppe zu einer Beobachtermission in der Ukraine unterwegs, die sie auch in ehemals russisch besetzte Gebiete führte. Die russischen Aktivisten sind allesamt im Exil; Orlow wurde in Russland zu zweieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt, kam aber vergangenen Sommer im Rahmen eines Gefangenenaustausches frei.

Auf ihrer Reise sahen die Beobachter die Folgen von Bombardierungen eindeutig ziviler Ziele wie Kindergärten und Wohnhäuser. Sie sprachen mit Menschen, die bei russischen Angriffen verwundet wurden oder Angehörige verloren haben. Sie sprachen mit Personen, die in russisch besetzten Gebieten verhaftet, entführt, gefoltert und inzwischen entlassen worden sind. Tausende befinden sich weiterhin in Gefangenschaft oder werden vermisst.

Die Memorial-Aktivisten, die bereits zwischen 2014 und 2016 entlang der Front in der Ostukraine Informationen über Menschenrechtsverletzungen gesammelt hatten, sehen eine klare Verbindung zwischen den Verbrechen russischer Sicherheitskräfte in den beiden Tschetschenienkriegen sowie in Syrien und denen in der Ukraine – sowohl hinsichtlich massiver Bombardierungen wie in Grosny, Aleppo und Mariupol als auch bei systematischen Misshandlungen. Letztere hätten einen Zweck: Alle Zivilisten, die sich mit der Ukraine identifizieren, sowie alle Soldatinnen und Soldaten physisch und psychisch zu zerstören. Niemand solle den russischen Angreifern noch Widerstand leisten können oder auch nur wollen.

Systematische Folter ukrainischer Kriegsgefangener

Deshalb werden alle Personen, die in die Hände russischer Besatzer geraten, an so genannten Filtrationspunkten überprüft. Wenn sich bei Zivilisten Anhaltspunkte finden, dass sie loyal zur Ukraine stehen, werden sie in Lager eingewiesen und dort misshandelt. Ukrainische Kriegsgefangene werden grundsätzlich alle gefoltert. Dies geschieht systematisch. Überlebende berichteten, dass das russische Lagerpersonal, wenn es in den Misshandlungen nachließ, ausgetauscht wurde. Es handelt sich dabei nicht um Exzesse, sondern um ein planvolles Vorgehen von Beginn an und überall. Es gibt Nachweise für entsprechende Befehle, und auch die Rotation des Personals zeigt, dass das System staatlich organisiert ist.

Die Menschenrechtler erklärten, die russischen Sicherheitskräfte hätten seit den Tschetschenien-Kriegen ihr Vorgehen noch perfektioniert. Während diese in Tschetschenien Menschen oft wahllos festgenommen hätten, um die Bevölkerung zu terrorisieren, Widerstand zu brechen und Informanten zu gewinnen, hätten sie bei der Eroberung ukrainischer Orte fertige Listen derjenigen dabei gehabt, die sie dann gefangen nahmen: Veteranen des Krieges, Soldaten, Polizisten, Freiwillige, Vertreter von Behörden und kommunaler Selbstverwaltung und sogar Jäger (weil sie bewaffnet sind). Sie alle wurden und werden inhaftiert, gefoltert, erschossen, gewaltsam verschwinden gelassen oder – wenn sie überleben – letztlich völlig entkräftet und gesundheitlich geschädigt ausgetauscht.

Natalia Morosowa sagte, die Täter unternähmen alles, um unerkannt zu bleiben. Überlebende hatten berichtet, dass sie die Zellen rückwärts gehend oder mit verbundenen Augen verlassen mussten. Die Folterer seien maskiert gewesen, wenn sie den Gefangenen die Augenbinden abnahmen. Dennoch sei es möglich herauszufinden, welche russischen Einheiten und welche Personen wann wo tätig waren.

Ziel der Untersuchungen der Menschenrechtler ist es, diejenigen zu identifizieren, die gefoltert oder andere Verbrechen begangen haben. „Wir kennen die Namen, manchmal sogar die Pseudonyme, die sie sich geben“, sagte Sacharow. Dank Zeugenaussagen könne gegen die mutmaßlichen Täter ermittelt werden, die in den ehemals oder noch russisch besetzten Gebieten der Ukraine und in Russland ukrainische Kriegsgefangene und Zivilisten folterten oder es noch tun. Da es derzeit nicht möglich sei, diese festzunehmen, werden die Gerichtsverfahren gegen sie in der Ukraine in Abwesenheit geführt. Es gehe also darum, die für Verbrechen Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Selbst wenn die ukrainischen Behörden ihrer nicht habhaft werden können, müssen die Täter wissen: Ihre Taten bleiben nicht anonym, sie werden ihnen zugerechnet, und als rechtskräftig verurteilte Straftäter werden sie sich nicht mehr frei bewegen können.

Massaker wie Butscha als Ergebnis systematischen Terrors

Memorial kämpft schon lange gegen die in Russland grassierende Straflosigkeit. Orlow bekräftigte, dass internationale Institutionen weitere Verbrechen dadurch ermöglichten, dass sie Straflosigkeit zuließen. So habe die nie erfolgte Bestrafung der Verantwortlichen für das Massaker von Novye Aldi in Tschetschenien, wo am 5. Februar 2000 eine russische Polizeieinheit 82 Einwohner ermordete, direkt zu den Greueltaten von Butscha geführt. Die in der Gemeinde bei Kyjiw begangenen Massaker seien kein Zufall, sondern das Ergebnis systematischen Terrors, den der russische Staat kontinuierlich intensivierte.

Ein Einfrieren der bestehenden Frontlinie würde bedeuten, dass russische Behörden Zugriff auf Millionen ukrainische Bürger hätten, sagte Orlows Kollege Malychin und forderte, dass die für Verbrechen Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen würden. „Alle gewaltsam festgehaltenen ukrainischen Bürger, egal ob Kriegsgefangene oder Zivilisten, müssen befreit werden“, sagte er.

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