Russland: Aktivismus im Untergrund

von | 9. Jul 2023 | Aktuell, Veranstaltung

“Nein zum Krieg” – Graffito aus Stupino bei Moskau. Quelle: OVD.info.

Seit dem Angriffskrieg gegen die Ukraine erlebt Russland eine massive Welle der Repressionen: Proteste wurden niedergeschlagen, Medien weitgehend auf Linie gebracht, wer sich gegen den Krieg äußerte, wurde kriminalisiert und verfolgt. Trotz allem gibt es Menschen, die zivilgesellschaftlich aktiv bleiben – und dafür große persönliche Risiken auf sich nehmen. Die Deutsche Sacharow Gesellschaft hat einige von ihnen vorgestellt..

Von Mandy Ganske-Zapf

Zivilgesellschaftliche Initiativen, die versuchen, ihre Arbeit in Russland fortzusetzen, müssen leise und vorsichtig agieren. So werden sie öffentlich wenig wahrgenommen – und schon gar nicht im Westen, wo bislang der Eindruck überwiegt, dass die russische Gesellschaft wie ein Monolith hinter dem Kreml steht.

Doch viele versuchen weiter, die Werte einer offenen Gesellschaft zu verteidigen, auch wenn sie sich wegen der drohenden Repressionen dabei nicht offen gegen den Krieg stellen können. Bei einer Online-Veranstaltung der Deutschen Sacharow Gesellschaft Ende Juni kamen fünf Vertreter solcher Initiativen zu Wort.

Warnung vor wachsender Isolation

Elena leitet eine Nichtregierungsorganisation, die sich in St. Petersburg in zwei Richtungen engagiert: Sie vernetzt russische Aktivisten sowohl untereinander als auch mit der europäischen Zivilgesellschaft. „Das ist wichtig, weil sich diese Menschen bei uns im Land sonst immer weiter isolieren.“ Die organisierten Veranstaltungen beschreibt Elena als Anlaufpunkt für Aktivistinnen aus ganz verschiedenen Bereichen, seien es Bildungsprojekte, Klimaschutzinitiativen oder Gruppen, die sich für die Rechte sexueller Minderheiten einsetzen. Elena betont, dass ihre Organisation sehr darauf achte, wer genau zu den verschiedenen Treffen komme, dass allen eine Antikriegshaltung gemein sein müsse, die jedoch nicht offen kommuniziert würde: „Auch um uns zu schützen.“

Solche Foren für kritischen Austausch sind in der militarisierten Gesellschaft Russlands schon lange nicht mehr selbstverständlich. Seit Beginn des großflächigen russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine im Februar 2022 ist die Schaffung solcher Foren noch gefährlicher geworden.

Kirill ist Koordinator eines Netzwerks politischer Bildungsprojekte in mehreren russischen Großstädten. Er macht klar, warum praktisch jedes zivilgesellschaftliche Engagement so heikel geworden ist: Schon „jegliche unabhängige Tätigkeit“ stelle für den russischen Staat eine Antikriegsposition dar. Er selbst organisiert mit seinen Mitstreitern politische Diskussionsrunden, mit denen sie speziell junge Leute erreichen. Wie Elena spürt er bei allen, die kommen, dass sie einfach den Austausch unter Gleichgesinnten suchen. Er hofft aber auch, die bisher apolitischen Menschen in Russland zu erreichen. „Leute, die bisher gar nicht verstehen, was vor sich geht.“ Kirill geht davon aus, dass es sich um eine recht große Gruppe handelt. In seiner Kindheit habe er oft das Mantra gehört, dass Politik ein schmutziges Geschäft sei. Dem wolle er etwas entgegensetzen und zu verstehen geben, dass es wichtig sei, sich einzumischen und selbst aktiv zu werden. Auch mit Blick auf ein künftiges Russland, nach dem Krieg.

Vera Ryklina, die das Gespräch moderierte, schilderte eindrücklich, wie sehr der autoritäre Machtapparat des Kremls das freie Wort erstickt. Das Moskauer Sacharow-Zentrum, wo sie gearbeitet hat, galt lange Zeit als ein führender Ort für eine offene, an demokratischen Grundwerten orientierte Diskussionskultur in der russischen Hauptstadt. Dieses Frühjahr verlor das Zentrum seine Räume und die meisten seiner Mitarbeiter haben das Lande verlassen. Auch Ryklina lebt im Exil.

Einzelproteste auf der Straße oder Posts in sozialen Netzwerken könnten bereits harte Strafen nach sich ziehen, erklärt sie, bis hin zu Lagerhaft. Hinzu kommen Denunziationen, Kündigungen auf der Arbeit und Exmatrikulationen von der Universität.

Auch Daria aus Kaliningrad gehört zu denjenigen, die – allen Widrigkeiten zum Trotz – weitermacht. Die Menschenrechtsaktivistin und Gründerin einer feministischen Organisation engagiert sich unter anderem gegen häusliche Gewalt. Seit dem 24. Februar hat sie ihre Arbeit erweitert, erzählt sie. So hilft sie etwa Ukrainer:innen, die nach der Flucht aus dem Kriegsgebiet über Russland nach Polen reisen wollen.

In der Flüchtlingshilfe ist auch Katja aus Moskau aktiv. Sie ist Teil eines losen Netzwerks von Freiwilligen, die Ukrainerinnen und Ukrainer ebenfalls den Weg von Russland in die EU ebnen. Sie geht davon aus, dass sie mittlerweile mindestens 20.000 Menschen helfen konnten. Nach der Katastrophe am Kachowka-Staudamm habe es erneut einen starken Anstieg Geflüchteter gegeben, denen die Freiwilligen zur Seite stehen, „viele ältere Menschen, viele immobile Menschen“. Hinzu kommt: viele, die sich mit ihren Haustieren vor den Fluten gerettet haben – und jetzt nicht weiterwüssten, weil vereinfachte Regeln für die Einfuhr von Kleintieren in die EU auslaufen. Sprich: Sie müssten die Tiere zurücklassen oder in Russland bleiben.

„Viele sind stiller geworden“

Pawel geht noch einen anderen Weg, um nicht tatenlos zu bleiben: Er leitet eine Online-Plattform, über die digitale Appelle an russische Abgeordnete gerichtet werden können – mit Hilfe von Eingabemasken und juristisch korrekt vorformulierter Mustertexte. Sie müssten dabei natürlich die offizielle Rhetorik beibehalten und könnten nur systemische Probleme adressieren, sagt Pawel. Dennoch: Dieser Weg sei die einzige legale Möglichkeit, das eigene Nicht-Einverständnis zu äußern.

Auf die Frage, wie sich eigentlich die jungen Aktivistinnen und Aktivisten in Russland seit Kriegsbeginn verändert hätten, sagt Elena, „viele sind stiller geworden, das bedeutet aber nicht, dass sie nicht sprechen wollen“. Bei den jungen Leuten, glaubt sie, wäre ein internationaler Austausch zu verschiedenen Themen gerade deshalb wichtig, weil dieser bereits während der Corona-Pandemie abgebrochen sei. Zudem, sagt Elena, spürten viele „keine Solidarität aus Europa“. Auch deshalb versucht sie weiter, kleine Fahrten zu organisieren und Ansprechpartner aus der EU für ihre Online-Veranstaltungen zu finden – auch wenn das sehr viel schwieriger geworden sei. Im Angesicht des Krieges seien nur wenige dazu bereit – zuletzt etwa ein früherer Dissident der polnischen Solidarność.

 

Die Diskussion war eine Gemeinschaftsveranstaltung des Youtube-Kanals “O strane i mire” (Über Land und Welt) und der Deutschen Sacharow Gesellschaft, die im Rahmen des Projekts „Wege zur Aufarbeitung von Krieg und Diktatur“ vom Auswärtigen Amt unterstützt wurde.

 

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