Wählen in der Autokratie -­ eine Übung für bessere Zeiten?

von | 12. Sep 2023 | Aktuell, Veranstaltung

Am vergangenen Sonntag endeten die Regionalwahlen in Russland. ­ In 22 Regionen wurden Gouverneure neu bestimmt, 16 Regionalparlamente sowie zahlreiche Stadt- und Gemeinderäte wurden neu gewählt. Die Abstimmungen gelten als die am wenigsten freien in der eh schon wenig demokratischen jüngeren russischen Geschichte. Dennoch sagen manche Beobachter, dass eine Teilnahme besser als ein Boykott ist..

Abgestimmt wurde außerdem ­ trotz Kriegsrechts ­ Scheinwahlen in den russisch besetzten ukrainischen Gebieten Donezk, Luhansk, Saporischschja und Cherson. Diese Ergebnisse werden international ebenso wenig anerkannt wie die Scheinreferenden zur völkerrechtswidriger Annexion der vier Gebiete im vergangenen Jahr.

Aber auch die Wahlen innerhalb der anerkannten Grenzen Russlands werden als die unfreiesten in der modernen Geschichte des Landes und seit Putins Machtantritt vor 24 Jahren angesehen. Ihre Ergebnisse standen praktisch schon im Vorhinein fest, die Kremlpartei Einiges Russland gewann überall mit großer Mehrheit und einen richtigen Wahlkampf hat es nicht gegeben. Manche halten die Abstimmung für eine Generalprobe für die Präsidentschaftswahl 2024: „Das Abhalten von Wahlen in autokratischen Ländern…, dient vor allem dazu, das Level der Kontrolle des Regimes über das politische System und die Eliten zu demonstrieren“, sagte der Politikwissenschaftler Kirill Rogow während eines Medien-Briefings der Deutschen Sacharow Gesellschaft. Aktivisten der unabhängigen und zum „ausländischen Agenten“ erklärten Wahlbeobachtungsorganisation Golos (deutsch: Stimme), deren Ko-Vorsitzender Grigori Melkonjanz kürzlich in Moskau festgenommen wurde, bezeichneten den Wahlkampf als inhaltsleersten, langweiligsten und unauffälligsten in der jüngeren Geschichte Russlands.

Wahlbeobachter in Haft, Oppositionelle vor Gericht

Melkonjanz‘ Kollege Stanislaw Andrejtschuk beklagte während desselben Briefings, dass viele Kandidatinnen und Kandidaten diesmal gar nicht erst angetreten seien, weil sie durch das politische Klima eingeschüchtert oder schlicht nicht zugelassen wurden. Im Vorfeld der Wahlen habe es Repressionen gegen beinahe alle politischen Parteien gegeben. So sei gegen Kandidaten der Kommunistischen Partei ein Zivilprozess eingeleitet worden, der einen Ausschluss von den Wahlen zur Folge haben könne, gegen zwei Kandidaten von Jabloko, der letzten liberalen Oppositionspartei, sei ein Strafverfahren wegen Extremismus eröffnet worden.

Zudem wurde der Druck auf Wählerinnen und Wähler erhöht. In staatlichen Betrieben hätten Vorgesetzte ihre Angestellten unverhohlen dazu aufgerufen, für Einiges Russland zu stimmen. Auch der Ausbau der elektronischen Stimmabgabe werde vorangetrieben: „Wir erhalten zahlreiche Zuschriften von Menschen, die trotz ihrer oppositionellen Haltung ihr Kreuz bei Einiges Russland setzen, aus Angst ihre Vorgesetzten könnten von ihrer Wahlentscheidung erfahren. Wo früher das Wahlgeheimnis zumindest in der Wahlkabine geschützt war, entzieht sich das intransparente, elektronische Stimmabgabesystem jeglicher zivilgesellschaftlichen Kontrolle“, konstatierte Andrejtschuk.

Auch Wahlbeobachterinnen und -beobachter sind dem Golos-Vertreter zufolge dieses Mal nicht so aktiv wie in der Vergangenheit, weil sich die liberale Opposition insgesamt seit Kriegsbeginn „in einer Art Depression“ befinde. Zudem fehle es an Geld für Wahlkampf.

Einseitige Berichterstattung und praktisch kein Wahlkampf

In den Staatsmedien kommen Parteien außer Einiges Russland nicht vor und auch für regionale Medien ist es aufgrund der herrschenden Zensur unmöglich Wahlwerbung für andere Kandidatinnen außer von der Regierungspartei zu machen oder über sie zu berichten. Öffentliche Wahlveranstaltungen sind seit der Corona-Pandemie verboten. Für Einiges Russland gilt hier ein Doppelstandard. Die politische Agitation findet deshalb fast nur noch im Internet statt, aber auch das ist erschwert, weil Facebook und Instagram verboten sind. Die meisten politischen Inhalte werden nun auf dem russsichen Netzwerk VKontakte und vor allem auf dem Chat-Dienst Telegram geteilt.

Zum Krieg gegen die Ukraine herrschte seitens Einiges Russland weitgehend Schweigen, offenbar weil dieses Thema Stimmen kosten und der Unzufriedenheit in der Bevölkerung Auftrieb verleihen könnte. In Regionen wie Jekaterinburg oder dem südsibirischen Chakassien gäbe es jedoch nicht im Ansatz so viel Unterstützung für die Kremlpartei, wie diese den Anschein erwecken möchte, vermutet Andrejtschuk: „Deshalb verstecken sie die Wahlen und lassen sie im Hintergrund ablaufen, behindern Wahlbeobachter und überziehen oppositionelle Kandidaten mit Repressionen.“

Wegen der genannten Umstände haben einige russische Oppositionelle sowie ukrainische Aktivisten zum Boykott aufgerufen. Die Wahlen dienten lediglich dazu, das diktatorische System, den Angriffskrieg und die russischen Besatzungsregimes in der Ukraine zu legitimieren. Sie argumentieren, dass das Kremlregime nicht mit Wahlen zu besiegen sei und diese auch keine richtigen Veränderungen schafften. Scharfe Kritik gab es auch am inhaftierten russischen Oppositionsführer Alexej Nawalny, der sich für eine Teilnahme an den Wahlen ausgesprochen hatte. Er und sein im Exil befindliches Team hatten wieder zum „smart voting“ aufgerufen, und zwar für „jeden Kandidaten, außer einen von Einiges Russland zu stimmen“, um der Kremlpartei zu schaden – allerdings nicht in Moskau, wo sie eine Teilnahme am „Wahltheater“ zwischen dem amtierenden Bürgermeister Sergej Sobjanin und Leonid Sjuganow, einem Vertreter des putinistischen KP-Flügels und Enkel von Kommunisten-Chef Gennadi Sjuganow, ablehnen.

Trotz allem plädieren manche für Teilnahme

Auch nach Ansicht einiger in Russland gebliebener, oppositioneller Politikerinnen und Politiker lohnt sich eine Beteiligung an den Wahlen ­ jedenfalls innerhalb des international anerkannten Staatsgebiets. Die Annahme, dass Demokratie und Bürgerbewegungen auch in einer „elektoralen Autokratie“ wie Russland aus der lokalen Selbstverwaltung heraus entstehen können, wird von vielen Politikwissenschaftlern und Aktivistinnen geteilt und hat sich bereits mehrfach bewahrheitet. Wenn Menschen merken, dass sie mit Engagement etwas verändern können, entwickelt sich der gesellschaftliche Wunsch nach demokratischer, politischer Teilhabe und wirkt der Atomisierung der Gesellschaft entgegen.

Sie argumentieren, dass man weiterhin an Wahlen teilnehmen solle, um politisch „in Übung zu bleiben“, bis es irgendwann zu freien Wahlen kommen könnte. Eine Nichtteilnahme käme einer Kapitulation gleich, findet der Politikwissenschaftler Alexander Kynew. Denn eines ist klar: Eine andere Art und Weise, politischen Unmut zu demonstrieren, ohne dafür bestraft zu werden, gibt es aktuell keine in Russland, wo Demonstrationen verboten sind, wenn sie nicht im Namen von Einiges Russland stattfinden.

Dieser Artikel wurde im Rahmen des Projekts „Wege zur Aufarbeitung von Krieg und Diktatur“ der Deutschen Sacharow Gesellschaft veröffentlicht. Ziel des Projekts ist, die Stimmen russischer Dissidenten und Kriegsgegnerinnen bekannter zu machen.

 

Abbildungen: Mit diesen stalinistisch anmutenden Postern machte die staatliche Wahlkommission Werbung für die elektronische Stimmabgabe

Quelle: https://t.me/cikrossii/2944; Grafik: Andrei Samokhotkin

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