Massenentlassungen regimekritischer Professorinnen und Lehrer, Pflichtkurse über die „traditionellen Werte Russlands“ und Lehrbücher mit einer staatlich vorgeschriebenen Einheitsversion der Geschichte: dass Putins Regime die Jugend militärisch-patriotisch indoktrinieren will, ist nicht neu. Doch seit dem Großangriff auf die Ukraine übersteigt die Einmischung des Staates in die Bildung jedes Maß.
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Das Ziel ist klar: Gute Staatsbürger in Russland sollen nicht selbst denken, sondern unhinterfragt glauben, was in Lehrbüchern steht und von diensteifrigen Lehrerinnen und Professoren verkündet wird. Das ist, in aller Kürze, Folgendes: Russland ist eine Weltmacht, das zeigt die ruhmreiche Geschichte vom Zarenreich bis zur Sowjetunion; Stalin war kein Verbrecher, sondern ein vom Volk innig geliebter Führer; der feindliche Westen war es, der zuerst die UdSSR zusammenbrechen ließ und später die russische Armee zwang, in die Ukraine einzumarschieren.
Soweit der ideologische Hintergrund, vor dem der Staat das Bildungssystem in Russland mehr und mehr gleichschaltet. Wie dies konkret aussieht, zum Beispiel an den Hochschulen, erläuterte der Soziologe Dmitry Dubrovsky bei einem Online-Briefing der Deutschen Sacharow Gesellschaft. Er verließ sein Land nach dem Großangriff auf die Ukraine und dokumentiert nun aus dem Exil die zunehmende akademische Unfreiheit in Russland.
Lehrverbote und staatliche Überwachung
Da sind zum einen diverse neue, politisch aufgeladene Fächer: von den „Grundlagen russischer Staatlichkeit“ über die „Geschichte Russlands im 20. Jahrhundert“ bis hin zu den „Traditionelle[n] Religionen“ und den „Traditionelle[n] Werten Russlands“. Solche Kurse sind schon bzw. werden Pflicht für Studierende – egal, ob sie sich für Ingenieurwissenschaften, Kunst oder Physik eingeschrieben haben.
Neben diesem ideologischen Umbau beschreibt Dubrovsky einschneidende strukturelle Veränderungen. Zunächst wurden Lehrende, die den Einmarsch der russischen Armee in die Ukraine nicht guthießen, in großer Zahl entlassen. Seit Dezember 2022 gilt zudem ein absolutes Lehrverbot für all jene, die die russische Bürokratie als „ausländische Agenten“ einstuft. An etlichen Universitäten entstanden neue militärische Ausbildungszentren. Dort bilde die Armee Studierende nicht nur aus, sondern rekrutiere zum Teil direkt, so Dubrovsky. Darüber hinaus gäbe es inzwischen an fast jeder Hochschule so genannte Vize-Rektoren, die für das „[politisch] richtige Verhalten der Studenten und Studentinnen verantwortlich“ seien, erklärt der Forscher.
Studierende denunzieren im Auftrag des Staates
An den führenden Universitäten Russlands seien Abteilungen aufgebaut worden, in denen Studentinnen und Studenten soziale Netzwerke nach regimekritischen Beiträgen von Studierenden und Lehrpersonal in der jeweiligen Region durchsuchten. „Das sind im Grunde universitäre Zweigstellen der Abteilung für Extremismusbekämpfung beim Innenministerium. Die Überwachung des akademischen Betriebs hat enorm zugenommen“, fasst Dubrovsky zusammen. Dazu gehöre auch, dass Studierende ermuntert würden, kritische Dozentinnen oder Kommilitonen bei den Behörden anzuzeigen. Solche Denunziationen seien inzwischen weit verbreitet und „ein wichtiger Bestandteil bei der Kontrolle des Lehrpersonals“.
Auch Studierende treffen die Säuberungen an den Universitäten. Die Organisation „Molnija“ (Blitz), die Studierende dabei unterstützt, ihre Rechte durchzusetzen, zählte in den vergangenen zwei Kriegsjahren mehr als dreimal so viele Exmatrikulationen „aus politischen Gründen“ (83 Fälle) wie von 2018 bis 2021 (25 Fälle). Es träfe vor allem diejenigen, die sich zivilgesellschaftlich engagierten oder sich weigerten, an organisierten „patriotischen“ Veranstaltungen teilzunehmen, beschreibt eine Juristin, die für „Molnija“ arbeitet und anonym bleiben möchte.
Zudem würden regimetreue Studierende durch Stipendien oder den Erlass von Studiengebühren bevorzugt, ergänzt der Student einer regionalen Universität, der seinen Namen aus Sicherheitsgründen ebenfalls nicht öffentlich macht. Gleiches gilt für Angehörige von an der Front Gefallenen, die Studienplätze an renommierten Hochschulen erhalten, auch ohne erforderliche Eingangstests zu bestehen.
Verherrlichung von Militär und „traditioneller Familie“
Wie stark Militarisierung und Ideologisierung auch in den Schulen voranschreiten, beschreibt der Sozialkundelehrer Alexej Makarow, der an einer staatlichen Schule in Moskau arbeitet und sich in einer Lehrergewerkschaft engagiert. Neben verpflichtenden militärischen Vorbereitungsklassen für die älteren Jahrgänge würden Veteranen in die Klassen eingeladen, Unterstützungsbriefe an die Front geschickt, Ausflüge zu Kriegsgräbern organisiert. Das Fach Gesellschaftskunde, in dem es um Zivilgesellschaft und Menschenrechte geht, wurde im März per Erlass für die Klassenstufen 6 bis 8 abgeschafft; stattdessen wird im Fach Familienführung das Ideal der kinderreichen, heterosexuellen Kleinfamilie propagiert.
Für den Geschichtsunterricht der 10. und 11. Klassen gibt es seit dem vergangenen September neue Schulbücher, die der ehemalige Kulturminister und heutige Präsidentenberater Wladimir Medinski mit einem Co-Autor verfasst hat. Sie schreiben eine staatliche Einheitsversion der Geschichte vor, in der die Ukraine nie als eigenständiger Staat existiert hat und Russland zu seinem Großangriff im Februar 2022 gezwungen wurde. Ausgaben für die jüngeren Klassen sollen folgen.
Doppeldenk sowjetischer Art
Eine Soziologin, die an einer pädagogischen Universität angehende Lehrkräfte ausbildet, berichtet aufgrund dieser Entwicklungen und Zwänge von einer „Rückkehr zum Doppeldenk sowjetischer Art: Nach außen tun wir so, als würden wir die Auflagen erfüllen, tatsächlich erzählen wir unseren Schülern und Studentinnen das, was wir für richtig halten. Wir versuchen, ihnen trotz allem kritisches Denken beizubringen. Das ist unsere Art von passivem Widerstand.“ Die Mehrheit der Lehrenden im heutigen Russland sei aber konservativ, absolut loyal dem Staat gegenüber und idealisiere das sowjetische Bildungssystem.
Doch es gäbe nach wie vor Inseln freier Bildung und Entwicklung, deren Mitarbeitende gut untereinander vernetzt seien und versuchten, kein öffentliches Aufsehen zu erregen. Sie kenne viele Lehrende, beschreibt die Dozentin, die mit dem Regime und dessen Vorgaben für Bildung und Lehre nicht einverstanden sind. „Diese Leute bleiben trotzdem hier, aus einer inneren Motivation heraus. Sie sagen: ‚Ich kann doch meine Kinder nicht allein lassen. Wenn ich gehe – wem überlasse ich sie denn dann?‘“
Das Briefing fand gemeinsam mit dem Medienprojekt “Land und Welt” (Страна и мир) im Rahmen des Projekts „Wege zur Aufarbeitung von Krieg und Diktatur“ der Deutschen Sacharow Gesellschaft statt.
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Foto: Wikicommons, I.S. Kopytov