Russische Realitäten: Zwischen Gewalt, Legitimation und Wut

von | 2. Dez. 2025 | Aktuell, Veranstaltung

Bei der Konferenz „Land und Welt: Russische Realitäten“ wurde dieses Jahr wieder über die Lage in Russland diskutiert. Auf insgesamt neun Panels berieten Expertinnen und Experten über Innen- und Außenpolitik sowie den Zustand der russischen Gesellschaft. Auf den zwei von der Deutschen Sacharow Gesellschaft organisierten Panels kamen auch deutsche Experten zu Wort. Insgesamt waren die Botschaften der zweitägigen Veranstaltung wenig hoffnungsvoll, schreibt Yelizaveta Landenberger.

Auf dem Panel 2 „Die russische Bedrohung und Europas Antwort“ wählte der Außenpolitikexperte Alexander Baunov die Metapher eines Flugzeugs, um den Balanceakt Russlands zu beschreiben: Der eine Flügel stehe für Gewalteinsatz, der andere für diplomatische Bestrebungen um Legitimität – um die Anerkennung des Westens, allen voran Washingtons. „Russland will mit Verhandlungen das Eroberte legitimieren“, erklärte der ehemalige Diplomat, der beim Carnegie Russia Eurasia Center in Berlin arbeitet. Der Gewaltflügel wiege jedoch schwerer, sodass das Flugzeug letztlich ins Wanken gerate. Dieses Zwei-Flügel-Paradigma, das zwei gegensätzliche Prinzipien zu vereinen versucht, sieht Baunov als Kontinuität der russischen Außenpolitik des vergangenen Jahrhunderts an. Auch die Sowjetunion habe so gedacht.

Moskau gehe es in seiner Außenpolitik niemals darum, gleiche Regeln für alle zu schaffen. Es unterscheide vielmehr strikt zwischen souveränen Staaten wie sich selbst und vermeintlich nicht-souveränen wie der Ukraine. Da Russland Letzterer seinen Willen nicht aufzwingen konnte, sei es zum Krieg übergegangen. Verhandlungen dienten Russland dazu, die Anerkennung dieses gewaltvollen Vorgehens durch die westliche Welt zu erreichen, so Baunov.

Diese Anerkennung sei jedoch stets brüchig, da die innere Legitimität des Regimes defekt sei. Weil der Kreml das wisse, greife er auch im Inneren zu Gewalt, um jeglichen Widerspruch zu unterdrücken. Für entsprechend aussichtslos hält Baunov die Idee, für Frieden Gebiete an Russland abzutreten. Schließlich habe auch die Krim 2014 Russlands Appetit nicht stillen können. Wieso es jetzt funktionieren sollte, sei unklar.

Deutschland ein Fall für Sigmund Freud?

Dem stimmte Roland Freudenstein, Mitgründer des Brussels Freedom Hub, zu: Aus der Idee der Gebietsabtretungen für Frieden spreche die Hoffnung, wenn man das Krokodil füttere, würde es einen erst später essen. Leider habe man im Westen die Gefahr, die von Russland ausgeht, erst spät erkannt. „Wir haben den Wecker gehört, aber immer wieder auf den Snooze-Knopf gedrückt,“ meinte Freudenstein. Gründe gebe es verschiedene, aber sicher auch eine tief verwurzelte, irrationale Russlandliebe der verschiedenen EU-Nationen. Deutschland sei ein Fall für Sigmund Freud, scherzte der deutsche Politologe.

Russische Einflussnahme von unten bekämpfen

Was die Resilienz angesichts der hybriden Bedrohungen aus Russland, etwa in Form von Desinformationskampagnen, angeht, zeigte sich Freudenstein zuversichtlich. Wichtig sei hier ein Bottom-Up-Vorgehen – dass Regierungen es der Zivilgesellschaft, NGOs und dem investigativen Journalismus überlassen, gegen die russische Einflussnahme vorzugehen. Damit müsse auch die Stärkung ausländischer demokratischer Akteure einhergehen, etwa russische Oppositionelle im Exil. Von denen forderte er, dass sie sich mehr als bisher in die nationalen Debatten der Länder, in denen sie nun leben, einbringen müssten.

Für Diskussionen sorgte Freudensteins Verteidigung der jüngsten Visa-Restriktionen für russische Reisende. Während Freudenstein sie als legitime Antwort auf hybride Attacken aus Russland einstufte, wurde im Laufe der Konferenz immer wieder der Gedanke geäußert, man dürfe gerade junge Menschen in Russland nicht vom Rest der Welt abschotten. Denn damit würde man dem russischen Regime letztlich entgegenkommen.

Meinungsforscher mit pessimistischen Aussichten

Beim Panel 6, „Identität und internationale Politik im Kontext des russischen Angriffskrieges“ ging es dann um die innere Verfasstheit der russischen Gesellschaft: Inna Berezkina, Programmdirektorin der (ehemaligen) Moskauer School of Civic Education, leitete den Abschnitt mit der Frage nach der Bedeutung der Freund-Feind-Unterscheidung im heutigen Russland ein. Sie frage sich, an welchem Punkt der Rückkehr des Totalitarismus man sich derzeit befinde.

Der aus Moskau zugeschaltete Lew Gudkow, Direktor des Lewada-Zentrums, des einzigen unabhängigen Meinungsforschungsinstituts Russlands, sprach über die Konsolidierung der russischen Gesellschaft durch einen vermeintlichen äußeren Feind: den Westen. Der Soziologe, der in diesem Dezember 79 Jahre alt wird und seit Februar auch persönlich als „ausländischer Agent“ gebrandmarkt ist, betonte, dass diese feindseligen Stimmungen nicht plötzlich mit der Großinvasion in die Ukraine 2022 aufgekommen, sondern Resultat eines langjährigen Prozesses seien. Vor 2000 habe man mit wenigen Ausnahmen keine feindseligen Einstellungen gegenüber westlichen oder nach Westen strebenden Ländern beobachten können. Mit Putins Machtantritt habe sich das geändert, sagte Gudkow, der als wichtigster Meinungsforscher Russlands gilt.

Wut auf den Feind steigert die Zufriedenheit

Das Bild des Feindes wandle sich zwar der Form nach – es verlagere sich im Laufe der Zeit etwa von den baltischen Staaten über Georgien auf die USA – aber seine Funktion bleibe immer die gleiche, erklärte Gudkow. Interessanterweise gehe die Steigerung der Wut auf den imaginären Feind mit der Verminderung der eigenen Unzufriedenheit einher. Das belegte der Meinungsforscher mit dem „Unzufriedenheitsindex“, der in den Nullerjahren stetig sinkt, nachdem er Ende der 1990er Jahre seinen Höhepunkt erreicht hatte, und mit Beginn der russischen Aggression gegen die Ukraine 2014 ruckartig abfällt.

Gewalt sei in Russland ein „Mittel der Selbstbestätigung“. Die eigene imperiale Identität werde so – auf neurotische Weise – negativ konstruiert: Man brauche einen vermeintlichen Feind, von dem man sich abgrenzt, um über sich selbst zu sprechen. Ohne diesen Feind könne es kein „kollektives Wir“ geben. „Das Pantheon unserer größten Menschen, das sind starke Führer: Feldherren, Zaren, Generalsekretäre und so weiter, die gegen den Westen gekämpft haben“, so Gudkow. Ohne diesen Faktor bleibe lediglich eine „überaus amorphe Vorstellung von uns selbst“.

Was die Zukunft anbelangt, äußerte sich Gudkow zutiefst pessimistisch. Es gebe in Russland gegenwärtig weder die Idee einer politischen Nation noch eine Zivilgesellschaft. Hier widerspricht er anderen Konferenzteilnehmern, die ihre Hoffnungen auf eben diese Zivilgesellschaft bauen.

Andreas Heinemann-Grüder, Politik-Professor an der Universität Bonn, stellte in seinem Online-Vortrag zentrale Narrative vor, die Russland zur Rechtfertigung seines Krieges gegen die Ukraine nutzt. Er verwies auf Motive, die seit jeher in der Menschheitsgeschichte angewandt würden, um Gewalt zu rationalisieren. So sehe man sich als auserwähltes, reines Volk mit messianischer Mission, das sich gegen die unterlegenen, barbarischen „Anderen“ verteidigen müsse, von denen man sich umzingelt fühle. Die strategischen Narrative, die Russland verwende, weisen dabei Widersprüche auf: Einerseits leugnet man den Krieg, andererseits rechtfertigt man ihn mit dem Bild der „russischen Welt“ (russki mir“), die sich weit über die Grenzen der Russischen Föderation hinaus erstrecke – oder aber als Reaktion auf vermeintliche Russophobie. Mit letzterer stilisiere man sich vom Täter zum Opfer, argumentierte Heinemann-Grüder.

Zumindest langfristig gebe es Hoffnung: Die meisten Russen seien eher Opportunisten als Überzeugungstäter. Und kein Imperium währe ewig.

Die hier verlinkten Videoaufzeichnungen sind alle in russischer Sprache bzw. Übersetzung. Die englischen Fassungen veröffentlichen wir zu einem späteren Zeitpunkt.

Die Konferenz „Russische Realitäten“ ist die Fortsetzung der gleichnamigen Reihe, die von 2018 bis 2021 im von den russischen Behörden mittlerweile aufgelösten Sacharow-Zentrum in Moskau durchgeführt wurde und seit 2022 im Exil organisiert wird.

Die Panels waren eine Gemeinschaftsveranstaltung des Medienprojekts „Strana i mir“ (Land und Welt) und der Deutschen Sacharow Gesellschaft. Sie fanden im Rahmen des vom Auswärtigen Amts unterstützten Projekts „Wege zur Aufarbeitung von Krieg und Diktatur“ der Deutschen Sacharow Gesellschaft statt.