1981 war Andrej Sacharow bereits wegen seiner Kritik am sowjetischen Einmarsch in Afghanistan in der geschlossenen Stadt Gorki verbannt und praktisch von der Außenwelt abgeschnitten. Zu seinem 60. Geburtstag erschien als Samisdat eine Festschrift, in der viele der Autoren über den Dissidenten wie über ein Wunder schrieben. Diese Haltung war nicht nur Ausdruck der Begeisterung, sondern auch eine Anerkennung von Sacharows Einzigartigkeit, schreibt Sergej Lukaschewski.
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Sacharow zog als inoffizieller Vater der sowjetischen Wasserstoffbombe weltweite Aufmerksamkeit auf sich. Das verlieh seinen öffentlichen Auftritten zusätzlich Kraft und schützte ihn lange vor der sowjetischen Repressionsmaschine. Die Verleihung des Friedensnobelpreises 1975 stärkte Sacharows Rolle als informelle Führungsfigur der sowjetischen Bürgerrechtler weiter. Zehn Jahre lang, bis zu seiner Verbannung nach Gorki (dem heutigen Nischni Nowgorod), setzte sich Sacharow, der einen Großteil seiner Privilegien verloren hatte, für politische Gefangene ein, kritisierte die sowjetische Außenpolitik und rief die Länder des Westens zur Geschlossenheit beim Einsatz für Demokratie und Menschenrechte auf.
Allerdings war auch die dissidentische Demokratiebewegung auf ihre Art ein Wunder. Eine Gesellschaft, die durch den Fleischwolf der Massenrepressionen gegangen war und den Tod von Millionen ihrer freiesten und unabhängigsten Bürger hinter sich hatte, fand genug kreative und moralische Kräfte, um der Welt ein Beispiel gewaltlosen Widerstands gegen eine totalitäre Diktatur vor Augen zu führen. Die Dissidenten schufen mit Nachrichtenmedien, Literatur- und Geschichtszeitschriften, unabhängigen Zusammenschlüssen und Hilfsnetzwerken nicht nur eine Zivilgesellschaft in einem unfreien Land, sondern beeinflussten auch das Entstehen wichtiger Prinzipien der modernen internationalen Menschenrechtsbewegung. Die 1976 in Sacharows Wohnung ausgerufene Moskauer Helsinki-Gruppe wurde zur ersten Nichtregierungsorganisation, deren Mitglieder, ohne Diplomaten oder Politiker zu sein, eigenmächtig das Recht ergriffen, die Einhaltung internationaler Menschenrechtsabkommen einzuschätzen. Heute wäre ohne diese Art Berichte von Menschenrechtlern die Arbeit der UNO oder des Europarates nicht mehr denkbar.
In der russischen Geschichte sind jedoch solche „Wunder“ durchaus immanent. Immer wieder wurde der politische Absolutismus von kurzen Phasen der Reform oder Revolution unterbrochen. Jahrhundertelang wurde auch die Tradition fortgeführt, Ungerechtigkeit anzuprangern, dem Despotismus moralischen Widerstand entgegenzusetzen und die Menschenwürde zu verteidigen.
Die sowjetischen Dissidenten suchten und fanden eine Stütze in der russischen Literatur und der Befreiungsbewegung des 19. Jahrhunderts. Im Fall Sacharows hatte diese Tradition nicht nur allgemeine kulturelle, sondern auch familiäre Wurzeln. Sein Großvater Iwan Sacharow hatte in einer Familie russisch-orthodoxer Priester als erster eine weltliche, juristische Ausbildung erhalten und war Mitherausgeber eines Sammelbandes gegen die Todesstrafe, in dem auch Lew Tolstoj einen Artikel schrieb. Es erschien 1907, in einer Phase, als das Zaren-Regime versuchte, mit Massenhinrichtungen die Revolution unter Kontrolle zu bekommen.
Um diese Tradition des Freidenkertums zu vernichten, hätte man die intellektuelle Klasse des Landes liquidieren (oder sie vollkommen neu schaffen) müssen. Das Sowjetregime schien diesen Weg gewählt zu haben, ohne Rücksicht auf Verluste. Eine wissenschaftliche Schule nach der anderen wurde zerschlagen und mit Repressionen überzogen: Psychologen, Historiker, Genetiker, Linguisten… Auch die Physiker sollten an die Reihe kommen, doch Stalin und sein Geheimdienstchef Beria standen klar vor einem Dilemma: Entweder ideologische Säuberungen unter der Parole des Kampfes gegen den Idealismus – oder der Bau einer Atombombe. Die sowjetischen Führer entschieden sich für die Bombe. Die Atomphysiker wurden zu einer Art geschlossenen Gesellschaft, für die die Forderung nach absoluter ideologischer Loyalität nicht galt. Das war die Gemeinschaft, in der sich die gesellschaftlichen Ansichten Sacharows herausbildeten.
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Die Sacharow-Doktrin
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„Es wurde mir unweigerlich bewusst, mit welch fürchterlichen, unmenschlichen Dingen wir zu tun hatten“, schrieb Sacharow über seine Arbeit im sowjetischen Atomprogramm. Diese Wahrnehmung stellte die Gelehrten zwangsläufig vor radikale ethische Fragen, unter anderem vor die persönliche Frage nach der eigenen Verantwortung.
Bereits 1955 formulierte Sacharow, der nach Aussagen seiner Kollegen in den Bereichen Theorie und Experiment gleichermaßen talentiert war – eine Seltenheit unter Wissenschaftlern – für sich das Hauptproblem: „Wir, Erfinder, Wissenschaftler, Ingenieure, Arbeiter haben eine fürchterliche Waffe geschaffen, die fürchterlichste Waffe in der Menschheitsgeschichte. Doch wird ihr Einsatz vollkommen außerhalb unserer Kontrolle liegen. Entscheiden […] werden sie, jene, die an der Spitze der Staatsmacht, der Partei- und Militärhierarchie stehen“.
1968 legte Sacharow die erste Variante eines systemischen Lösungsansatzes vor, unter dem Titel „Gedanken über Fortschritt, friedliche Koexistenz und geistige Freiheit“. Die Menschheit solle auf der Grundlage geistiger Freiheit („der Freiheit, Informationen zu erhalten und zu verbreiten, der Freiheit unvoreingenommener und furchtloser Diskussion, des Fehlens von Druck durch Autoritäten und Vorurteile“) ihre Spaltung überwinden. „Diese dreifache Freiheit der Meinungsäußerung“, schrieb Sacharow, „ist die einzige Garantie dagegen, dass die Bevölkerung von Massenmythen befallen wird, die sich in den Händen von heimtückischen Heuchlern und Demagogen leicht zu einer blutigen Diktatur wandeln können“. Also in ein politisches Regime, das fähig ist, zum Einsatz von Atomwaffen zu greifen. Darüber hinaus könne geistige Freiheit die Menschheit auf den Weg einer Konvergenz und Überwindung der Spaltung bringen. Sacharow ging zu dieser Zeit noch davon aus, dass das sowjetische System über eigene fundamental positive Eigenschaften verfügt. Er schlug eine Roadmap vor, der zu Folge die Menschheit (zumindest der Westen und der Block der sozialistischen Länder) bis 2000 in einer Welt ohne Atomwaffen leben könnte, nachdem die grundsätzlichen Widersprüche der sozio-ökonomischen Systeme unter Führung einer Weltregierung überwunden wären.
Besonders in der Rückschau erscheint dies als absolute Utopie. Sacharow war jedoch kein Träumer. In seiner Weltanschauung bestand der Ausgangspunkt für jede Handlung im Aufbau eines Ideals. „Ideale zu schaffen, ist ein natürliches Bedürfnis“, sagt Sacharow 1973 in einem Interview, „selbst wenn kein unmittelbarer Weg zu deren Umsetzung zu erkennen ist. Wenn es nämlich keine Ideale gibt, dann gibt es nichts, worauf man hoffen kann. Dann setzt das Gefühl einer Finsternis ein, einer Sackgasse“.
Die Veröffentlichung der „Gedanken“ wurde zu einem Wendepunkt im Leben Sacharows. Er begann seinen Kampf für geistige Freiheit und wandelte sich vom supergeheimen Akademiemitglied zum bekanntesten Dissidenten. Unter dem Einfluss der nicht abreißenden Bitten um Hilfe für die Opfer politischer Verfolgung und der vielfältigen Ungerechtigkeiten durch die Behörden (die Sowjetbürger betrachteten Sacharow praktisch als Ombudsmann) wurden Sacharows Ansichten, insbesondere die zum Sowjetsystem, sehr viel pessimistischer. Er erkennt im eigenen Land „ein Meer von menschlichem Unglück, Schwierigkeiten, Boshaftigkeit, Grausamkeit, äußerst tiefer Ermüdung und Gleichgültigkeit“. „Die derzeitige sowjetische Gesellschaft lässt sich, finde ich, am kürzesten als ‚Gesellschaft eines staatlichen Kapitalismus‘ charakterisieren, also als eine Ordnung, die sich vom derzeitigen Kapitalismus westlichen Typs durch eine vollständige Nationalisierung, ein völliges Partei- und Regierungsmonopol im Bereich der Wirtschaft und damit auch in der Kultur, der Ideologie und anderer wichtiger Lebensbereiche unterscheidet“. So charakterisierte Sacharow die UdSSR in seinem Werk „Mein Land und die Welt“.
Es war die Umdeutung des Charakters des sowjetischen Regimes und dessen Rolle in der Welt, die es Sacharow erlaubten, eine eigene Doktrin zu entwickeln. Er postulierte sie in einem Vortrag, den er zur Verleihung des Friedensnobelpreises 1975 schrieb: „Frieden, Fortschritt, Menschenrechte, diese drei Ziele sind untrennbar miteinander verbunden; keins von ihnen lässt sich erreichen, wenn die anderen vernachlässigt werden“.
In dieser kurzen Formel ist seine Vorstellung über die Einheit der Menschheit und ihre wahren Interessen enthalten, die Konstatierung der globalen wechselseitigen Abhängigkeit, nicht nur der horizontalen (der Länder und Völker), sondern auch der „intersektoralen“ (von Wirtschaft, Politik, Kultur und Wissenschaft). Auf erstaunliche Weise ist eine Projektion der Grundlagenwissenschaft auf die sozialen Beziehungen zu erkennen. Die Wissenschaft des 20. Jahrhunderts, die der Gelehrte Sacharow verkörperte, führte die Physik des grenzenlosen Weltalls mit der Physik der Elementarteilchen zusammen. Sacharow extrapolierte diese Sicht auf die Weltpolitik, indem er die internationale Sicherheit (das Überleben der gesamten Menschheit) mit der Verteidigung der Menschenrechte verband, und mit dem Schicksal jedes einzelnen politischen Gefangenen. Sacharows Triade spiegelte sowohl das westliche rationalistische Verständnis über die Untrennbarkeit von Fortschritt und Freiheit wider als auch das der russischen Kultur innewohnende Streben nach radikalen ethischen Fragen (der Preis „einer einzigen Träne eines gequälten Kindes“ bei Dostojewskij).
Das Leben unter den Bedingungen des Sowjetregimes und in einer Welt, die von der Konfrontation zweier militärischer und politischer Blöcke bestimmt wurde, fixierte die Aufmerksamkeit Sacharows unweigerlich auf den ersten und letzten Teil seiner Triade, also auf Fragen der militärischen Bedrohung und der Wahrung der Menschenrechte (Auch wenn er in seinen Stellungnahmen auch andere Themen anspricht, etwa die Gefahren für die Umwelt durch einen unkontrollierten Fortschritt, die soziale Ungleichheit und viele andere Fragen). Seine Appelle und Überlegungen, die in Dutzenden seiner Erklärungen, Artikel und Interviews enthalten sind, machten deutlich, wie Sacharows Triade in der praktischen Politik umgesetzt werden kann.
Vor allem brachte Sacharow konsequent das Thema Menschenrechte in den Kontext der „großen Politik“ ein, und das in einer äußerst konkreten Dimension. In der erwähnten Nobelpreisrede zählte er namentlich 122 politische Gefangene auf. Das waren Dissidenten, die wegen der Verbreitung verbotener Literatur (u.a. über politische Verfolgung) verurteilt worden waren, Krimtataren, die für eine Rückkehr auf die Krim gekämpft hatten, Deutsche und Juden, die sich für ein Recht auf Emigration aus der UdSSR eingesetzt hatten, Gläubige, die für ihr Recht auf Religionsfreiheit eingetreten waren, Ukrainer, Armenier und Litauer, die eine nationale Wiedergeburt ihrer Völker anstrebten. Die Aufzählung von Namen ist eine höchst symbolische Handlung. Durch sie erlangt ein allgemeines Problem „Fleisch und Blut“, es findet einen Ausdruck in Schicksalen konkreter Menschen, mit denen man mitfühlen kann und für die man kämpfen muss. Sacharow konnte im Rahmen eines Textes oder eines Interviews seine Ansicht als Fachmann zur Frage des atomaren Gleichgewichts zwischen den USA und der UdSSR äußern und gleichzeitig sein Engagement für das Schicksal einzelner Menschen zeigen, indem er eine grundsätzliche Verbindung und Gleichstellung dieser beiden Seiten des politischen Lebens herstellte.
Das wichtigste Postulat Sacharows besteht also in der Forderung, dass die Achtung der Menschenrechte untrennbar Bestandteil des internationalen Systems der Sicherheitspolitik müsse: Sie sind als eindämmendes Element nicht weniger wichtig als das System der Rüstungskontrolle.
Sacharow skizziert in seinen Äußerungen eine ganze Reihe weiterer äußerst strenger Forderungen an die Politik, die leider auch heute ihre Aktualität nicht verloren haben.
Die freien Länder müssen sich von der Illusion verabschieden, dass es mit autoritären Staaten eine Gemeinsamkeit der Interessen geben könne. Politische Regime, die konsequent und massenhaft fundamentale Menschenrechte verletzen, sind potenziell stets eine Gefahrenquelle für die internationale Sicherheit. Es kann nicht voneinander getrennte Wertesysteme für die Innen- und Außenpolitik geben. Die Bereitschaft, im Innern Zwang und Gewalt einzusetzen, überträgt sich unausweichlich früher oder später nach außen. Eine wichtige Konsequenz dieser These ist, dass es sinnlos, ja sogar gefährlich wäre, einseitige Abrüstungsschritte zu unternehmen, in der Hoffnung, dadurch die Spannungen zu reduzieren.
Wenn auch autoritäre Regime ganz offensichtlich rückständig sind und eine strategische Ineffizienz aufweisen, so verfügen sie doch über mehr Flexibilität und die Fähigkeit, schnell Entscheidungen zu treffen und Ressourcen zu bündeln. Das verschafft ihnen taktische Vorteile gegenüber freien Ländern, die diesen Umstand in ihrer Politik berücksichtigen müssen.
Ein weiteres Problem der freien Welt ist die Zersplitterung. An sich ist sie die Kehrseite des Pluralismus. Allerdings wird die freie Welt durch mangelnde Geschlossenheit geschwächt. Für sie bedeutet nationaler Egoismus einen relativ sehr viel höheren negativen Preis. Die Überwindung des nationalen Egoismus zugunsten gemeinsamer Werte und Ziele ist eine Aufgabe, die man nie aus dem Blick verlieren sollte.
Die technologische und wirtschaftliche Überlegenheit freier Länder ist die wichtigste Ressource zum Schutz von Frieden und Menschenrechten. Die Einschränkung der Wirtschaftsverbindungen und des Technologieaustauschs mit autoritären Staaten (also Sanktionen gegen sie) ist nicht eine Bestrafung von bestimmten Ländern durch andere, sondern eine Strategie zur Selbstverteidigung. Sacharow hat zu diesem Thema einen eigenen Artikel geschrieben („Atomenergie und die Freiheit des Westens“). Freie Länder sollten nicht in eine Ressourcenabhängigkeit von autoritären Staaten geraten (Heute ist offensichtlich geworden, dass das Problem breiter als die Frage der Bodenschätze ist und in sämtlicher wirtschaftlicher Abhängigkeit besteht). Sacharow war für die Verabschiedung des „Jackson-Vanik-Amendments“ und kritisierte eine Reihe europäischer Staaten sowie Japan, die sich geweigert hatten, wegen Menschenrechtsverletzungen eine Beschränkung der Wirtschaftsbeziehungen mit der UdSSR einzuführen.
Technologische Überlegenheit ist nicht immer ein akzeptables Mittel zur Gewährleistung der Sicherheit. Man darf sich nicht auf Atomwaffen als ausschließliches Mittel zur Abschreckung des Gegners stützen. Die einzige relativ akzeptable moralische Rechtfertigung für die Existenz dieser Waffen ist ein strategisches Gleichgewicht mit anderen Atommächten. „Atomwaffen haben nur als Mittel zur Warnung für den Fall einer atomaren Aggression eines potenziellen Gegners einen Sinn. Man kann also nicht einen Atomkrieg mit dem Ziel planen, ihn zu gewinnen. Atomwaffen dürfen nicht als Mittel zur Abschreckung einer Aggression betrachtet werden, die mit Hilfe konventioneller Waffen erfolgt“, schrieb Sacharow in einem offenen Brief an Sidney Drell („Die Gefahr des thermonuklearen Krieges“).
In einer Weiterentwicklung dieser These legte Sacharow die Konzeption des „detaillierten Gleichgewichts“ vor. Die Abrüstung könnte konsequenter sein, wenn sie auf einer Parität bei jedem einzelnen Rüstungstyp beruht. Das könnte merkwürdigerweise bedeuten, dass im Voraus eine Nachrüstung notwendig wird, die die für den Beginn von Verhandlungen über eine Reduzierung der Armeen und Arsenale erforderliche Parität herstellt. Sacharow schrieb: „[…] die größte Gefahr besteht darin, in einen thermonuklearen Krieg hineinzurutschen. Wenn sich die Wahrscheinlichkeit dieses Ausgangs um den Preis weiterer 10 oder 15 Jahre Rüstungswettlauf verringern ließe, dann wird dieser Preis wohl zu zahlen sein, bei gleichzeitigen diplomatischen, wirtschaftlichen, ideologischen, politischen, kulturellen und sozialen Anstrengungen zur Vermeidung eines möglichen Krieges“.
Wenn man Sacharow aufmerksam liest, dann tritt hinter den idealistischen Formulierungen eine feste, konsequente und durchaus pragmatische Position hervor. Sie geht von einer klaren Unterscheidung der Bedrohungen, von Widerstand und der Bereitschaft aus, seinen Preis für eine allmähliche, aber beharrliche Bewegung hin zum gesteckten Ziel zu zahlen.
Auch Sacharow ging diesen Weg. Ungeachtet der Hetze in der sowjetischen Presse, drohender Repressalien, der Verfolgung der Angehörigen und schließlich der siebenjährigen Verbannung rief er fortgesetzt die freie Welt zur Geschlossenheit in der Konfrontation mit dem Totalitarismus auf, bis in der UdSSR die Perestroika begann, die einen Großteil seiner Aufrufe verwirklichte: Ende der aggressiven Außenpolitik, Abrüstung und schließlich Demokratisierung, also Glasnost (Meinungsfreiheit), Freilassung der politischen Gefangenen, freie Emigration und der Beginn einer demokratischen politischen Reform.
Sacharows letztes Lebensjahr war voller Dramatik. Anders als die überwiegende Mehrheit seiner Zeitgenossen (Konservative wie Demokraten) sah er die zunehmende soziale und wirtschaftliche Krise. Sacharow rief zu einer radikalen politischen Reform auf, die den Weg zu einer Transformation der Wirtschaft ebnen sollte. Am 14. Dezember 1989 starb Sacharow an einem Herzstillstand. Die politische Transformation ging zu langsam voran, die Wirtschaftsreform wurde gebremst. 1991 endete zusammen mit der UdSSR eine Epoche, die auch die Epoche Sacharows war.
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Ein neues Jahrhundert
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Das Scheitern des kommunistischen Experiments, der Kollaps der UdSSR und der Zusammenbruch des sowjetischen militärischen und politischen Blocks haben das Bild der Welt radikal verändert. Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre erlebte die Welt eine Welle der Demokratisierung. Die Globalisierung schritt rasch voran, der technologische und wirtschaftliche Fortschritt machten die Welt noch einheitlicher und schufen noch stärkere Verbindungen untereinander. Die Welt, so schien es, hatte die Gefahr eines globalen Krieges überwunden, und dem auf liberale Ideen gegründeten Fortschritt würden fortan keine ernsthaften Barrieren im Wege stehen.
Sacharows Ideen wurden entweder als Geschichte wahrgenommen (als Widerstand gegen Totalitarismus kommunistischer Spielart), oder als Gemeinplatz: Menschenrechte als Teil der internationalen Politik, die Umweltkosten des Fortschritts und freier Austausch von Informationen.
Heute allerdings, zu Beginn des dritten Jahrzehnts des neuen Jahrhunderts, gibt es nicht mehr Anlass für den früheren Optimismus. In Russland ist das besonders deutlich zu sehen.
Die radikalen Wirtschaftsreformen waren in einem nicht reformierten, eklektischen politischen System begonnen worden, was zur politischen Krise von 1993 führte, die in einer bewaffneten Konfrontation entschieden wurde. Der Sieg von Präsident Jelzin, der als Garant und Motor der Reformen auftrat, geriet gleichzeitig zum Todesstoß für die zarten Anfänge des Parlamentarismus in Russland. Die Erfahrung des Einsatzes militärischer Gewalt zur Lösung einer politischen Krise erschien als Prolog zum ersten Tschetschenienkrieg, der von massenhaften Menschenrechtsverletzungen begleitet war. Die Wahrnehmung des „Präsidenten und Garanten“ als einzige Garantie gegen eine Rückkehr zum Kommunismus diente als Rechtfertigung dafür, Wahlen nicht als demokratischen Wettbewerb sondern als technologische Wählermanipulation ablaufen zu lassen. Nach dem Machtantritt Wladimir Putins setzte eine konsequente Demontage der bürgerlichen Freiheiten ein. Heute leben die Russen in einem Land, in dem seit wenigsten sechs Jahren ununterbrochen wirtschaftliche Stagnation herrscht, und zwar in einer Atmosphäre ebenso ununterbrochener militaristischer Propaganda, wobei parallel eine Reihe hybrider Kriege geführt werden, von denen der Ukraine-Krieg der schändlichste ist.
Die Hoffnung auf wirtschaftlichen Fortschritt als einzige Lokomotive für die Entwicklung des Landes und die Missachtung der Menschenrechte (unter anderem der sozialen Rechte) hat Russland letztendlich in einen Zustand versetzt, in dem es weder Frieden noch Menschenrechte oder Entwicklung gibt. Heute führen die Menschenrechtler wie vor einem Vierteljahrhundert Listen mit politischen Gefangenen; derzeit werden dort 376 Personen registriert. Von Alexej Pitschugin, der bereits 17 Jahre aufgrund des Verfahrens gegen den Ölkonzern JUKOS einsitzt, bis Alexej Nawalny, der einen Giftanschlag überlebt hat.
Man könnte annehmen, dass sich nur in Russland alles wiederholt, weil es dem Land nicht gelungen ist, vom „autoritären Gleis“ zu kommen.
Werfen wir einen kurzen Blick auf die große Welt. Die Globalisierung der Wirtschaft hat die Ungleichheit sowohl zwischen den Ländern wie auch innerhalb der Gesellschaften (der reichen wie der armen) nicht verringert, sondern verstärkt. Die weltweiten Demokratisierungsprozesse sind zum Stillstand gekommen und sogar rückläufig, unter anderem in einigen EU-Mitgliedsstaaten. Die freie Welt riskiert, wieder in eine globale Konfrontation zu geraten. Allerdings nicht mit der UdSSR, sondern mit einem autoritären China. Die Volkswirtschaften der freien Welt sind von den Produktionskapazitäten Chinas nicht weniger abhängig als von den fossilen Rohstoffen Russlands und anderer Autokratien. In letzter Zeit haben nicht nur Menschenrechtler, sondern endlich auch Unternehmen ihre Aufmerksamkeit auf die massenhaften Repressionen gegen die Uiguren gerichtet. Das ist zwar ein gutes Zeichen, doch wieviel Jahre hatte sich zuvor die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit China (wie auch mit Russland) entwickelt, ohne dass irgendeine Verbindung zu Menschrechtsproblemen hergestellt wurde. Die Corona-Pandemie schließlich hat uns gezeigt, wie sehr das Leben des Menschen verwundbar ist, wie leicht der gewohnte Alltag zerstört werden kann und wir Möglichkeiten verlieren (etwa die Freizügigkeit), die wir eben noch für immer errungen zu haben glaubten.
Sacharows Worte von der Unteilbarkeit der Welt, des Fortschritts und der Menschenrechte klingen heute wieder wie ein aktueller Appell und eine Mahnung für Politologen, Aktivisten der Zivilgesellschaft und alle, die nicht gleichgültig sind. Unsere Welt muss angesichts der Bedrohung der Umwelt, der vielen lokalen bewaffneten Konflikte, der mangelnden Gleichberechtigung und der Ungerechtigkeit die Spaltungen überwinden. Wie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts brauchen wir geistige Freiheit, die heute zum einen von autoritärer Zensur bedroht wird, und zum anderen durch autoritäre und populistische Propaganda.
Im gleichen Maße, in dem die Mahnungen Sacharows heute zutreffen, ist jetzt auch seine Hoffnung berechtigt. „Ich glaube daran,“ schrieb Sacharow in seinem Essay „Frieden nach einem halben Jahrhundert“, „dass die Menschheit für die schwierige Aufgabe, einen grandiosen, notwendigen und unausweichlichen Fortschritt bei der Wahrung des Menschlichen im Menschen und des Natürlichen in der Natur zu erreichen, eine vernünftige Lösung finden wird“.
Und in Russland vollzieht sich ungeachtet der finsteren Jahre des neuen Autoritarismus wie eh und je sein obligates Wunder: Tausende wollen sich nicht mehr mit Ungerechtigkeit, Willkür und Rechtlosigkeit abfinden. Wie schon die Dissidenten der Sowjetzeit brauchen sie Aufmerksamkeit und Unterstützung – die Solidarität der freien Welt. Schließlich wird vom Kampf für Freiheit und Menschenrechte in Russland letztendlich der Fortschritt und die Sicherheit in der ganzen Welt abhängen.
Sergej Lukaschewski ist Leiter des Moskauer Sacharow-Zentrums. Der studierte Historiker arbeitete in den 1990er Jahren für Memorial und die Moskauer Helsinki Gruppe. Von 2004 bis 2010 war er Gründungsdirektor des Moskauer Demos Zentrums für Menschenrechte. Seit 2022 lebt er in Berlin.
Übersetzung aus dem Russischen: Hartmut Schröder.