1981 war Andrej Sach­a­row bereits wegen seiner Kritik am sowje­ti­schen Ein­marsch in Afgha­ni­stan in der geschlos­se­nen Stadt Gorki verbannt und prak­tisch von der Außen­welt abge­schnit­ten. Zu seinem 60. Geburts­tag erschien als Samis­dat eine Fest­schrift, in der viele der Autoren über den Dissidenten wie über ein Wunder schrieben. Diese Haltung war nicht nur Aus­druck der Begeis­te­rung, sondern auch eine Aner­ken­nung von Sacharows Einzigartigkeit, schreibt Sergej Lukaschewski.
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Sach­a­row zog als inof­fi­zi­el­ler Vater der sowje­ti­schen Was­ser­stoff­bombe weltweite Auf­merk­sam­keit auf sich. Das verlieh seinen öffent­li­chen Auf­trit­ten zusätz­lich Kraft und schützte ihn lange vor der sowje­ti­schen Repres­si­ons­ma­schine. Die Ver­lei­hung des Frie­dens­no­bel­prei­ses 1975 stärkte Sach­a­rows Rolle als infor­melle Füh­rungs­fi­gur der sowje­ti­schen Bür­ger­recht­ler weiter. Zehn Jahre lang, bis zu seiner Ver­ban­nung nach Gorki (dem heu­ti­gen Nischni Now­go­rod), setzte sich Sach­a­row, der einen Groß­teil seiner Pri­vi­le­gien ver­lo­ren hatte, für poli­ti­sche Gefan­gene ein, kri­ti­sierte die sowje­ti­sche Außen­po­li­tik und rief die Länder des Westens zur Geschlos­sen­heit beim Einsatz für Demo­kra­tie und Men­schen­rechte auf.

Aller­dings war auch die dis­si­den­ti­sche Demo­kra­tie­be­we­gung auf ihre Art ein Wunder. Eine Gesell­schaft, die durch den Fleisch­wolf der Mas­sen­re­pres­sio­nen gegan­gen war und den Tod von Mil­lio­nen ihrer frei­es­ten und unab­hän­gigs­ten Bürger hinter sich hatte, fand genug krea­tive und mora­li­sche Kräfte, um der Welt ein Bei­spiel gewalt­lo­sen Wider­stands gegen eine tota­li­täre Dik­ta­tur vor Augen zu führen. Die Dis­si­den­ten schufen mit Nach­rich­ten­me­dien, Lite­ra­tur- und Geschichts­zeit­schrif­ten, unab­hän­gi­gen Zusam­men­schlüs­sen und Hilfs­netz­wer­ken nicht nur eine Zivil­ge­sell­schaft in einem unfreien Land, sondern beein­fluss­ten auch das Ent­ste­hen wich­ti­ger Prin­zi­pien der moder­nen inter­na­tio­na­len Men­schen­rechts­be­we­gung. Die 1976 in Sach­a­rows Wohnung aus­ge­ru­fene Mos­kauer Hel­sinki-Gruppe wurde zur ersten Nicht­re­gie­rungs­or­ga­ni­sa­tion, deren Mit­glie­der, ohne Diplo­ma­ten oder Poli­ti­ker zu sein, eigen­mäch­tig das Recht ergrif­fen, die Einhaltung inter­na­tio­naler Men­schen­rechts­ab­kom­men einzuschätzen. Heute wäre ohne diese Art Berichte von Men­schen­recht­lern die Arbeit der UNO oder des Euro­pa­ra­tes nicht mehr denkbar.

In der russischen Geschichte sind jedoch solche „Wunder“ durch­aus imma­nent. Immer wieder wurde der politische Abso­lu­tis­mus von kurzen Phasen der Reform oder Revo­lu­tion unter­bro­chen. Jahr­hun­der­te­lang wurde auch die Tra­di­tion fort­ge­führt, Unge­rech­tig­keit anzu­pran­gern, dem Des­po­tis­mus mora­li­schen Wider­stand ent­ge­gen­zu­set­zen und die Men­schenwürde zu verteidigen.

Die sowje­ti­schen Dis­si­den­ten suchten und fanden eine Stütze in der rus­si­schen Lite­ra­tur und der Befrei­ungs­be­we­gung des 19. Jahr­hun­derts. Im Fall Sach­a­rows hatte diese Tra­di­tion nicht nur all­ge­meine kul­tu­relle, sondern auch fami­liäre Wurzeln. Sein Groß­va­ter Iwan Sach­a­row hatte in einer Familie rus­sisch-ortho­do­xer Pries­ter als erster eine welt­li­che, juris­ti­sche Ausbildung erhal­ten und war Mit­her­aus­ge­ber eines Sam­mel­ban­des gegen die Todes­strafe, in dem auch Lew Tolstoj einen Artikel schrie­b. Es erschien 1907, in einer Phase, als das Zaren-Regime ver­suchte, mit Mas­sen­hin­rich­tun­gen die Revo­lu­tion unter Kon­trolle zu bekommen.

Um diese Tra­di­tion des Frei­den­ker­tums zu ver­nich­ten, hätte man die intel­lek­tu­elle Klasse des Landes liqui­die­ren (oder sie voll­kom­men neu schaf­fen) müssen. Das Sowjet­re­gime schien diesen Weg gewählt zu haben, ohne Rück­sicht auf Ver­luste. Eine wis­sen­schaft­li­che Schule nach der anderen wurde zer­schla­gen und mit Repres­sio­nen über­zo­gen: Psy­cho­lo­gen, His­to­ri­ker, Gene­ti­ker, Lin­gu­is­ten… Auch die Phy­si­ker sollten an die Reihe kommen, doch Stalin und sein Geheim­dienst­chef Beria standen klar vor einem Dilemma: Ent­we­der ideo­lo­gi­sche Säu­be­run­gen unter der Parole des Kampfes gegen den Idea­lis­mus – oder der Bau einer Atom­bombe. Die sowje­ti­schen Führer ent­schie­den sich für die Bombe. Die Atom­phy­si­ker wurden zu einer Art geschlos­se­nen Gesell­schaft, für die die For­de­rung nach abso­lu­ter ideo­lo­gi­scher Loya­li­tät nicht galt. Das war die Gemein­schaft, in der sich die gesell­schaft­li­chen Ansich­ten Sach­a­rows herausbildeten.
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Die Sach­a­row-Doktrin
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„Es wurde mir unwei­ger­lich bewusst, mit welch fürch­ter­li­chen, unmensch­li­chen Dingen wir zu tun hatten“, schrieb Sach­a­row über seine Arbeit im sowje­ti­schen Atom­pro­gramm. Diese Wahr­neh­mung stellte die Gelehr­ten zwangs­läu­fig vor radi­kale ethi­sche Fragen, unter anderem vor die per­sön­li­che Frage nach der eigenen Verantwortung.

Bereits 1955 for­mu­lierte Sach­a­row, der nach Aus­sa­gen seiner Kol­le­gen in den Berei­chen Theorie und Expe­ri­ment glei­cher­ma­ßen talen­tiert war – eine Sel­ten­heit unter Wis­sen­schaft­lern – für sich das Haupt­pro­blem: „Wir, Erfin­der, Wis­sen­schaft­ler, Inge­nieure, Arbei­ter haben eine fürch­ter­li­che Waffe geschaf­fen, die fürch­ter­lichste Waffe in der Mensch­heits­ge­schichte. Doch wird ihr Einsatz voll­kom­men außer­halb unserer Kon­trolle liegen. Ent­schei­den […] werden sie, jene, die an der Spitze der Staats­macht, der Partei- und Mili­tär­hier­ar­chie stehen“.

1968 legte Sach­a­row die erste Vari­ante eines sys­te­mi­schen Lösungsansat­zes vor, unter dem Ti­tel „Gedan­ken über Fort­schritt, fried­li­che Koexis­tenz und geis­tige Frei­heit“. Die Mensch­heit solle auf der Grund­lage geis­ti­ger Frei­heit („der Frei­heit, Infor­ma­tio­nen zu erhal­ten und zu ver­brei­ten, der Frei­heit unvor­ein­ge­nom­me­ner und furcht­lo­ser Dis­kus­sion, des Fehlens von Druck durch Auto­ri­tä­ten und Vor­ur­teile“) ihre Spal­tung über­win­den. „Diese drei­fa­che Frei­heit der Mei­nungs­äu­ße­rung“, schrieb Sach­a­row, „ist die einzige Garan­tie dagegen, dass die Bevöl­ke­rung von Mas­sen­my­then befal­len wird, die sich in den Händen von heim­tü­cki­schen Heuch­lern und Dem­ago­gen leicht zu einer blu­ti­gen Dik­ta­tur wandeln können“. Also in ein poli­ti­sches Regime, das fähig ist, zum Einsatz von Atom­waf­fen zu greifen. Darüber hinaus könne geis­tige Frei­heit die Mensch­heit auf den Weg einer Kon­ver­genz und Über­win­dung der Spal­tung bringen. Sach­a­row ging zu dieser Zeit noch davon aus, dass das sowje­ti­sche System über eigene fun­da­men­tal posi­tive Eigen­schaf­ten verfügt. Er schlug eine Roadmap vor, der zu Folge die Mensch­heit (zumin­dest der Westen und der Block der sozia­lis­ti­schen Länder) bis 2000 in einer Welt ohne Atom­waf­fen leben könnte, nachdem die grund­sätz­li­chen Wider­sprü­che der sozio-öko­no­mi­schen Systeme unter Führung einer Welt­re­gie­rung über­wun­den wären.

Beson­ders in der Rück­schau erscheint dies als abso­lute Utopie. Sach­a­row war jedoch kein Träumer. In seiner Welt­an­schau­ung bestand der Aus­gangs­punkt für jede Hand­lung im Aufbau eines Ideals. „Ideale zu schaf­fen, ist ein natür­li­ches Bedürf­nis“, sagt Sach­a­row 1973 in einem Inter­view, „selbst wenn kein unmit­tel­ba­rer Weg zu deren Umset­zung zu erken­nen ist. Wenn es nämlich keine Ideale gibt, dann gibt es nichts, worauf man hoffen kann. Dann setzt das Gefühl einer Fins­ter­nis ein, einer Sackgasse“.

Die Ver­öf­fent­li­chung der „Gedan­ken“ wurde zu einem Wen­de­punkt im Leben Sach­a­rows. Er begann seinen Kampf für geis­tige Frei­heit und wan­delte sich vom super­ge­hei­men Aka­de­mie­mit­glied zum bekann­tes­ten Dis­si­den­ten. Unter dem Ein­fluss der nicht abrei­ßen­den Bitten um Hilfe für die Opfer poli­ti­scher Ver­fol­gung und der viel­fäl­ti­gen Unge­rech­tig­kei­ten durch die Behör­den (die Sowjet­bür­ger betrach­te­ten Sach­a­row prak­tisch als Ombuds­mann) wurden Sach­a­rows Ansich­ten, ins­be­son­dere die zum Sowjet­sys­tem, sehr viel pes­si­mis­ti­scher. Er erkennt im eigenen Land „ein Meer von mensch­li­chem Unglück, Schwie­rig­kei­ten, Bos­haf­tig­keit, Grau­sam­keit, äußerst tiefer Ermü­dung und Gleich­gül­tig­keit“. „Die der­zei­tige sowje­ti­sche Gesell­schaft lässt sich, finde ich, am kür­zes­ten als ‚Gesell­schaft eines staat­li­chen Kapi­ta­lis­mus‘ cha­rak­te­ri­sie­ren, also als eine Ordnung, die sich vom der­zei­ti­gen Kapi­ta­lis­mus west­li­chen Typs durch eine voll­stän­dige Natio­na­li­sie­rung, ein völ­li­ges Partei- und Regie­rungs­mo­no­pol im Bereich der Wirt­schaft und damit auch in der Kultur, der Ideo­lo­gie und anderer wich­ti­ger Lebens­be­rei­che unter­schei­det“. So cha­rak­te­ri­sierte Sach­a­row die UdSSR in seinem Werk „Mein Land und die Welt“.

Es war die Umdeu­tung des Cha­rak­ters des sowje­ti­schen Regimes und dessen Rolle in der Welt, die es Sach­a­row erlaub­ten, eine eigene Doktrin zu ent­wi­ckeln. Er pos­tu­lierte sie in einem Vortrag, den er zur Ver­lei­hung des Frie­dens­no­bel­prei­ses 1975 schrieb: „Frieden, Fort­schritt, Men­schen­rechte, diese drei Ziele sind untrenn­bar mit­ein­an­der ver­bun­den; keins von ihnen lässt sich errei­chen, wenn die anderen ver­nach­läs­sigt werden“.

In dieser kurzen Formel ist seine Vor­stel­lung über die Einheit der Mensch­heit und ihre wahren Inter­es­sen ent­hal­ten, die Kon­sta­tie­rung der glo­ba­len wech­sel­sei­ti­gen Abhän­gig­keit, nicht nur der hori­zon­ta­len (der Länder und Völker), sondern auch der „inter­sek­to­ra­len“ (von Wirt­schaft, Politik, Kultur und Wis­sen­schaft). Auf erstaun­li­che Weise ist eine Pro­jek­tion der Grund­la­gen­wis­sen­schaft auf die sozia­len Bezie­hun­gen zu erken­nen. Die Wis­sen­schaft des 20. Jahr­hun­derts, die der Gelehrte Sach­a­row ver­kör­perte, führte die Physik des gren­zen­lo­sen Welt­alls mit der Physik der Ele­men­tar­teil­chen zusam­men. Sach­a­row extra­po­lierte diese Sicht auf die Welt­po­li­tik, indem er die inter­na­tio­nale Sicher­heit (das Über­le­ben der gesam­ten Mensch­heit) mit der Ver­tei­di­gung der Men­schen­rechte verband, und mit dem Schick­sal jedes ein­zel­nen poli­ti­schen Gefan­ge­nen. Sach­a­rows Triade spie­gelte sowohl das west­li­che ratio­na­lis­ti­sche Ver­ständ­nis über die Untrenn­bar­keit von Fort­schritt und Frei­heit wider als auch das der rus­si­schen Kultur inne­woh­nende Streben nach radi­ka­len ethi­schen Fragen (der Preis „einer ein­zi­gen Träne eines gequäl­ten Kindes“ bei Dostojewskij).

Das Leben unter den Bedin­gun­gen des Sowjet­re­gimes und in einer Welt, die von der Kon­fron­ta­tion zweier mili­tä­ri­scher und poli­ti­scher Blöcke bestimmt wurde, fixierte die Auf­merk­sam­keit Sach­a­rows unwei­ger­lich auf den ersten und letzten Teil seiner Triade, also auf Fragen der mili­tä­ri­schen Bedro­hung und der Wahrung der Men­schen­rechte (Auch wenn er in seinen Stel­lung­nah­men auch andere Themen anspricht, etwa die Gefah­ren für die Umwelt durch einen unkon­trol­lier­ten Fort­schritt, die soziale Ungleich­heit und viele andere Fragen). Seine Appelle und Über­le­gun­gen, die in Dut­zen­den seiner Erklä­run­gen, Artikel und Inter­views ent­hal­ten sind, machten deut­lich, wie Sach­a­rows Triade in der prak­ti­schen Politik umge­setzt werden kann.

Vor allem brachte Sach­a­row kon­se­quent das Thema Men­schen­rechte in den Kontext der „großen Politik“ ein, und das in einer äußerst kon­kre­ten Dimen­sion. In der erwähn­ten Nobel­preis­rede zählte er nament­lich 122 poli­ti­sche Gefan­gene auf. Das waren Dis­si­den­ten, die wegen der Ver­brei­tung ver­bo­te­ner Lite­ra­tur (u.a. über poli­ti­sche Ver­fol­gung) ver­ur­teilt worden waren, Krim­ta­ta­ren, die für eine Rück­kehr auf die Krim gekämpft hatten, Deut­sche und Juden, die sich für ein Recht auf Emi­gra­tion aus der UdSSR ein­ge­setzt hatten, Gläu­bige, die für ihr Recht auf Reli­gi­ons­frei­heit ein­ge­tre­ten waren, Ukrai­ner, Arme­nier und Litauer, die eine natio­nale Wie­der­ge­burt ihrer Völker anstreb­ten. Die Auf­zäh­lung von Namen ist eine höchst sym­bo­li­sche Hand­lung. Durch sie erlangt ein all­ge­mei­nes Problem „Fleisch und Blut“, es findet einen Aus­druck in Schick­sa­len kon­kre­ter Men­schen, mit denen man mit­füh­len kann und für die man kämpfen muss. Sach­a­row konnte im Rahmen eines Textes oder eines Inter­views seine Ansicht als Fach­mann zur Frage des ato­ma­ren Gleich­ge­wichts zwi­schen den USA und der UdSSR äußern und gleich­zei­tig sein Enga­ge­ment für das Schick­sal ein­zel­ner Men­schen zeigen, indem er eine grund­sätz­li­che Ver­bin­dung und Gleich­stel­lung dieser beiden Seiten des poli­ti­schen Lebens herstellte.

Das wich­tigste Pos­tu­lat Sach­a­rows besteht also in der For­de­rung, dass die Achtung der Men­schen­rechte untrenn­bar Bestand­teil des inter­na­tio­na­len Systems der Sicher­heits­po­li­tik müsse: Sie sind als ein­däm­men­des Element nicht weniger wichtig als das System der Rüstungskontrolle.

Sach­a­row skiz­ziert in seinen Äuße­run­gen eine ganze Reihe wei­te­rer äußerst stren­ger For­de­run­gen an die Politik, die leider auch heute ihre Aktua­li­tät nicht ver­lo­ren haben.

Die freien Länder müssen sich von der Illu­sion ver­ab­schie­den, dass es mit auto­ri­tä­ren Staaten eine Gemein­sam­keit der Inter­es­sen geben könne. Poli­ti­sche Regime, die kon­se­quent und mas­sen­haft fun­da­men­tale Men­schen­rechte ver­let­zen, sind poten­zi­ell stets eine Gefah­ren­quelle für die inter­na­tio­nale Sicher­heit. Es kann nicht von­ein­an­der getrennte Wer­te­sys­teme für die Innen- und Außen­po­li­tik geben. Die Bereit­schaft, im Innern Zwang und Gewalt ein­zu­set­zen, über­trägt sich unaus­weich­lich früher oder später nach außen. Eine wich­tige Kon­se­quenz dieser These ist, dass es sinnlos, ja sogar gefähr­lich wäre, ein­sei­tige Abrüs­tungs­schritte zu unter­neh­men, in der Hoff­nung, dadurch die Span­nun­gen zu reduzieren.

Wenn auch auto­ri­täre Regime ganz offen­sicht­lich rück­stän­dig sind und eine stra­te­gi­sche Inef­fi­zi­enz auf­wei­sen, so ver­fü­gen sie doch über mehr Fle­xi­bi­li­tät und die Fähig­keit, schnell Ent­schei­dun­gen zu treffen und Res­sour­cen zu bündeln. Das ver­schafft ihnen tak­ti­sche Vor­teile gegen­über freien Ländern, die diesen Umstand in ihrer Politik berück­sich­ti­gen müssen.

Ein wei­te­res Problem der freien Welt ist die Zer­split­te­rung. An sich ist sie die Kehr­seite des Plu­ra­lis­mus. Aller­dings wird die freie Welt durch man­gelnde Geschlos­sen­heit geschwächt. Für sie bedeu­tet natio­na­ler Ego­is­mus einen relativ sehr viel höheren nega­ti­ven Preis. Die Über­win­dung des natio­na­len Ego­is­mus zuguns­ten gemein­sa­mer Werte und Ziele ist eine Aufgabe, die man nie aus dem Blick ver­lie­ren sollte.

Die tech­no­lo­gi­sche und wirt­schaft­li­che Über­le­gen­heit freier Länder ist die wich­tigste Res­source zum Schutz von Frieden und Men­schen­rech­ten. Die Ein­schrän­kung der Wirt­schafts­ver­bin­dun­gen und des Tech­no­lo­gie­aus­tauschs mit auto­ri­tä­ren Staaten (also Sank­tio­nen gegen sie) ist nicht eine Bestra­fung von bestimm­ten Ländern durch andere, sondern eine Stra­te­gie zur Selbst­ver­tei­di­gung. Sach­a­row hat zu diesem Thema einen eigenen Artikel geschrie­ben („Atom­ener­gie und die Frei­heit des Westens“). Freie Länder sollten nicht in eine Res­sour­cen­ab­hän­gig­keit von auto­ri­tä­ren Staaten geraten (Heute ist offen­sicht­lich gewor­den, dass das Problem breiter als die Frage der Boden­schätze ist und in sämt­li­cher wirt­schaft­li­cher Abhän­gig­keit besteht). Sach­a­row war für die Ver­ab­schie­dung des „Jackson-Vanik-Amend­ments“ und kri­ti­sierte eine Reihe euro­päi­scher Staaten sowie Japan, die sich gewei­gert hatten, wegen Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen eine Beschrän­kung der Wirt­schafts­be­zie­hun­gen mit der UdSSR einzuführen.

Tech­no­lo­gi­sche Über­le­gen­heit ist nicht immer ein akzep­ta­bles Mittel zur Gewähr­leis­tung der Sicher­heit. Man darf sich nicht auf Atom­waf­fen als aus­schließ­li­ches Mittel zur Abschre­ckung des Gegners stützen. Die einzige relativ akzep­ta­ble mora­li­sche Recht­fer­ti­gung für die Exis­tenz dieser Waffen ist ein stra­te­gi­sches Gleich­ge­wicht mit anderen Atom­mäch­ten. „Atom­waf­fen haben nur als Mittel zur Warnung für den Fall einer ato­ma­ren Aggres­sion eines poten­zi­el­len Gegners einen Sinn. Man kann also nicht einen Atom­krieg mit dem Ziel planen, ihn zu gewin­nen. Atom­waf­fen dürfen nicht als Mittel zur Abschre­ckung einer Aggres­sion betrach­tet werden, die mit Hilfe kon­ven­tio­nel­ler Waffen erfolgt“, schrieb Sach­a­row in einem offenen Brief an Sidney Drell („Die Gefahr des ther­mo­nu­klea­ren Krieges“).

In einer Wei­ter­ent­wick­lung dieser These legte Sach­a­row die Kon­zep­tion des „detail­lier­ten Gleich­ge­wichts“ vor. Die Abrüs­tung könnte kon­se­quen­ter sein, wenn sie auf einer Parität bei jedem ein­zel­nen Rüs­tungs­typ beruht. Das könnte merk­wür­di­ger­weise bedeu­ten, dass im Voraus eine Nach­rüs­tung not­wen­dig wird, die die für den Beginn von Ver­hand­lun­gen über eine Redu­zie­rung der Armeen und Arse­nale erfor­der­li­che Parität her­stellt. Sach­a­row schrieb: „[…] die größte Gefahr besteht darin, in einen ther­mo­nu­klea­ren Krieg hin­ein­zu­rut­schen. Wenn sich die Wahr­schein­lich­keit dieses Aus­gangs um den Preis wei­te­rer 10 oder 15 Jahre Rüs­tungs­wett­lauf ver­rin­gern ließe, dann wird dieser Preis wohl zu zahlen sein, bei gleich­zei­ti­gen diplo­ma­ti­schen, wirt­schaft­li­chen, ideo­lo­gi­schen, poli­ti­schen, kul­tu­rel­len und sozia­len Anstren­gun­gen zur Ver­mei­dung eines mög­li­chen Krieges“.

Wenn man Sach­a­row auf­merk­sam liest, dann tritt hinter den idea­lis­ti­schen For­mu­lie­run­gen eine feste, kon­se­quente und durch­aus prag­ma­ti­sche Posi­tion hervor. Sie geht von einer klaren Unter­schei­dung der Bedro­hun­gen, von Wider­stand und der Bereit­schaft aus, seinen Preis für eine all­mäh­li­che, aber beharr­li­che Bewe­gung hin zum gesteck­ten Ziel zu zahlen.

Auch Sach­a­row ging diesen Weg. Unge­ach­tet der Hetze in der sowje­ti­schen Presse, dro­hen­der Repres­sa­lien, der Ver­fol­gung der Ange­hö­ri­gen und schließ­lich der sie­ben­jäh­ri­gen Ver­ban­nung rief er fort­ge­setzt die freie Welt zur Geschlos­sen­heit in der Kon­fron­ta­tion mit dem Tota­li­ta­ris­mus auf, bis in der UdSSR die Pere­stroika begann, die einen Groß­teil seiner Aufrufe ver­wirk­lichte: Ende der aggres­si­ven Außen­po­li­tik, Abrüs­tung und schließ­lich Demo­kra­ti­sie­rung, also Glas­nost (Mei­nungs­frei­heit), Frei­las­sung der poli­ti­schen Gefan­ge­nen, freie Emi­gra­tion und der Beginn einer demo­kra­ti­schen poli­ti­schen Reform.

Sach­a­rows letztes Lebens­jahr war voller Dra­ma­tik. Anders als die über­wie­gende Mehr­heit seiner Zeit­ge­nos­sen (Kon­ser­va­tive wie Demo­kra­ten) sah er die zuneh­mende soziale und wirt­schaft­li­che Krise. Sach­a­row rief zu einer radi­ka­len poli­ti­schen Reform auf, die den Weg zu einer Trans­for­ma­tion der Wirt­schaft ebnen sollte. Am 14. Dezem­ber 1989 starb Sach­a­row an einem Herz­still­stand. Die poli­ti­sche Trans­for­ma­tion ging zu langsam voran, die Wirt­schafts­re­form wurde gebremst. 1991 endete zusam­men mit der UdSSR eine Epoche, die auch die Epoche Sach­a­rows war.
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Ein neues Jahrhundert
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Das Schei­tern des kom­mu­nis­ti­schen Expe­ri­ments, der Kollaps der UdSSR und der Zusam­men­bruch des sowje­ti­schen mili­tä­ri­schen und poli­ti­schen Blocks haben das Bild der Welt radikal ver­än­dert. Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre erlebte die Welt eine Welle der Demo­kra­ti­sie­rung. Die Glo­ba­li­sie­rung schritt rasch voran, der tech­no­lo­gi­sche und wirt­schaft­li­che Fort­schritt machten die Welt noch ein­heit­li­cher und schufen noch stär­kere Ver­bin­dun­gen unter­ein­an­der. Die Welt, so schien es, hatte die Gefahr eines glo­ba­len Krieges über­wun­den, und dem auf libe­rale Ideen gegrün­de­ten Fort­schritt würden fortan keine ernst­haf­ten Bar­rie­ren im Wege stehen.

Sach­a­rows Ideen wurden ent­we­der als Geschichte wahr­ge­nom­men (als Wider­stand gegen Tota­li­ta­ris­mus kom­mu­nis­ti­scher Spiel­art), oder als Gemein­platz: Men­schen­rechte als Teil der inter­na­tio­na­len Politik, die Umwelt­kos­ten des Fort­schritts und freier Aus­tausch von Informationen.

Heute aller­dings, zu Beginn des dritten Jahr­zehnts des neuen Jahr­hun­derts, gibt es nicht mehr Anlass für den frü­he­ren Opti­mis­mus. In Russ­land ist das beson­ders deut­lich zu sehen.

Die radi­ka­len Wirt­schafts­re­for­men waren in einem nicht refor­mier­ten, eklek­ti­schen poli­ti­schen System begon­nen worden, was zur poli­ti­schen Krise von 1993 führte, die in einer bewaff­ne­ten Kon­fron­ta­tion ent­schie­den wurde. Der Sieg von Prä­si­dent Jelzin, der als Garant und Motor der Refor­men auftrat, geriet gleich­zei­tig zum Todes­stoß für die zarten Anfänge des Par­la­men­ta­ris­mus in Russ­land. Die Erfah­rung des Ein­sat­zes mili­tä­ri­scher Gewalt zur Lösung einer poli­ti­schen Krise erschien als Prolog zum ersten Tsche­tsche­ni­en­krieg, der von mas­sen­haf­ten Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen beglei­tet war. Die Wahr­neh­mung des „Prä­si­den­ten und Garan­ten“ als einzige Garan­tie gegen eine Rück­kehr zum Kom­mu­nis­mus diente als Recht­fer­ti­gung dafür, Wahlen nicht als demo­kra­ti­schen Wett­be­werb sondern als tech­no­lo­gi­sche Wäh­ler­ma­ni­pu­la­tion ablau­fen zu lassen. Nach dem Macht­an­tritt Wla­di­mir Putins setzte eine kon­se­quente Demon­tage der bür­ger­li­chen Frei­hei­ten ein. Heute leben die Russen in einem Land, in dem seit wenigs­ten sechs Jahren unun­ter­bro­chen wirt­schaft­li­che Sta­gna­tion herrscht, und zwar in einer Atmo­sphäre ebenso unun­ter­bro­che­ner mili­ta­ris­ti­scher Pro­pa­ganda, wobei par­al­lel eine Reihe hybri­der Kriege geführt werden, von denen der Ukraine-Krieg der schänd­lichste ist.

Die Hoff­nung auf wirt­schaft­li­chen Fort­schritt als einzige Loko­mo­tive für die Ent­wick­lung des Landes und die Miss­ach­tung der Men­schen­rechte (unter anderem der sozia­len Rechte) hat Russ­land letzt­end­lich in einen Zustand ver­setzt, in dem es weder Frieden noch Men­schen­rechte oder Ent­wick­lung gibt. Heute führen die Men­schen­recht­ler wie vor einem Vier­tel­jahr­hun­dert Listen mit poli­ti­schen Gefan­ge­nen; derzeit werden dort 376 Per­so­nen regis­triert. Von Alexej Pitschu­gin, der bereits 17 Jahre auf­grund des Ver­fah­rens gegen den Ölkon­zern JUKOS ein­sitzt, bis Alexej Nawalny, der einen Gift­an­schlag über­lebt hat.

Man könnte anneh­men, dass sich nur in Russ­land alles wie­der­holt, weil es dem Land nicht gelun­gen ist, vom „auto­ri­tä­ren Gleis“ zu kommen.

Werfen wir einen kurzen Blick auf die große Welt. Die Glo­ba­li­sie­rung der Wirt­schaft hat die Ungleich­heit sowohl zwi­schen den Ländern wie auch inner­halb der Gesell­schaf­ten (der reichen wie der armen) nicht ver­rin­gert, sondern ver­stärkt. Die welt­wei­ten Demo­kra­ti­sie­rungs­pro­zesse sind zum Still­stand gekom­men und sogar rück­läu­fig, unter anderem in einigen EU-Mit­glieds­staa­ten. Die freie Welt ris­kiert, wieder in eine globale Kon­fron­ta­tion zu geraten. Aller­dings nicht mit der UdSSR, sondern mit einem auto­ri­tä­ren China. Die Volks­wirt­schaf­ten der freien Welt sind von den Pro­duk­ti­ons­ka­pa­zi­tä­ten Chinas nicht weniger abhän­gig als von den fos­si­len Roh­stof­fen Russ­lands und anderer Auto­kra­tien. In letzter Zeit haben nicht nur Men­schen­recht­ler, sondern endlich auch Unter­neh­men ihre Auf­merk­sam­keit auf die mas­sen­haf­ten Repres­sio­nen gegen die Uiguren gerich­tet. Das ist zwar ein gutes Zeichen, doch wieviel Jahre hatte sich zuvor die wirt­schaft­li­che Zusam­men­ar­beit mit China (wie auch mit Russ­land) ent­wi­ckelt, ohne dass irgend­eine Ver­bin­dung zu Men­sch­rechts­pro­ble­men her­ge­stellt wurde. Die Corona-Pan­de­mie schließ­lich hat uns gezeigt, wie sehr das Leben des Men­schen ver­wund­bar ist, wie leicht der gewohnte Alltag zer­stört werden kann und wir Mög­lich­kei­ten ver­lie­ren (etwa die Frei­zü­gig­keit), die wir eben noch für immer errun­gen zu haben glaubten.

Sach­a­rows Worte von der Unteil­bar­keit der Welt, des Fort­schritts und der Men­schen­rechte klingen heute wieder wie ein aktu­el­ler Appell und eine Mahnung für Poli­to­lo­gen, Akti­vis­ten der Zivil­ge­sell­schaft und alle, die nicht gleich­gül­tig sind. Unsere Welt muss ange­sichts der Bedro­hung der Umwelt, der vielen lokalen bewaff­ne­ten Kon­flikte, der man­geln­den Gleich­be­rech­ti­gung und der Unge­rech­tig­keit die Spal­tun­gen über­win­den. Wie in der zweiten Hälfte des 20. Jahr­hun­derts brau­chen wir geis­tige Frei­heit, die heute zum einen von auto­ri­tä­rer Zensur bedroht wird, und zum anderen durch auto­ri­täre und popu­lis­ti­sche Propaganda.

Im glei­chen Maße, in dem die Mah­nun­gen Sach­a­rows heute zutref­fen, ist jetzt auch seine Hoff­nung berech­tigt. „Ich glaube daran,“ schrieb Sach­a­row in seinem Essay „Frieden nach einem halben Jahr­hun­dert“, „dass die Mensch­heit für die schwie­rige Aufgabe, einen gran­dio­sen, not­wen­di­gen und unaus­weich­li­chen Fort­schritt bei der Wahrung des Mensch­li­chen im Men­schen und des Natür­li­chen in der Natur zu errei­chen, eine ver­nünf­tige Lösung finden wird“.

Und in Russ­land voll­zieht sich unge­ach­tet der fins­te­ren Jahre des neuen Auto­ri­ta­ris­mus wie eh und je sein obli­ga­tes Wunder: Tau­sende wollen sich nicht mehr mit Unge­rech­tig­keit, Willkür und Rechtlosigkeit abfin­den. Wie schon die Dis­si­den­ten der Sowjet­zeit brau­chen sie Auf­merk­sam­keit und Unter­stüt­zung – die Soli­da­ri­tät der freien Welt. Schließ­lich wird vom Kampf für Frei­heit und Men­schen­rechte in Russ­land letzt­end­lich der Fort­schritt und die Sicher­heit in der ganzen Welt abhängen.

 

Sergej Lukaschewski ist Leiter des Moskauer Sacharow-Zentrums. Der studierte Historiker arbeitete in den 1990er Jahren für Memorial und die Moskauer Helsinki Gruppe. Von 2004 bis 2010 war er Gründungsdirektor des Moskauer Demos Zentrums für Menschenrechte. Seit 2022 lebt er in Berlin.

 

Über­set­zung aus dem Rus­si­schen: Hartmut Schröder.