Vor 80 Jahren wurde das Volk der Krimtataren nach Zentralasien deportiert. Aus diesem Anlass erinnert unsere Vorständin Uta Gerlant an den Einsatz Andrej Sacharows für die autochtone Bevölkerung der Krim. Sie nimmt vor allem die Solidarität zwischen ihm und Mustafa Dschemilew in den Blick und deren gemeinsamen Kampf für die Menschenrechte – insbesondere für das Recht der Krimtataren auf Rückkehr in ihre Heimat.
.Am 18. Mai 2024 jährte sich zum 80. Mal die Deportation der Krimtataren von 1944. Damals wurden das gesamte Volk deportiert und vor allem in völlig unwirtlichen Gegenden Usbekistans angesiedelt. Auch kommunistische Parteifunktionäre wurden nicht verschont. Die Männer, die zu dieser Zeit in der Roten Armee oder als sowjetische Partisanen kämpften, wurden nach ihrer Demobilisierung den Deportierten hinterhergeschickt. Schätzungen zufolge starb die Hälfte der Krimtataren infolge der Deportation.
Als Vorwand für die Deportation diente die kollektive Beschuldigung, die Krimtataren hätten sich der Kollaboration mit den deutschen Besatzern schuldig gemacht. Diese immer wieder geäußerte Anschuldigung wies Andrej Sacharow in einem Aufsatz 1988 zurück: „Die Übertragung der Verantwortung für die Taten Einzelner auf ein ganzes Volk ist unstatthaft.“[1]
Verantwortlich für die Deportation der Krimtataren war Iwan Serow, erster stellvertretender Volkskommissar für Inneres der UdSSR. Zuvor hatte er bereits die Deportationen im Baltikum geleitet. Und ab Sommer 1945 bis Februar 1947 war er NKWD/MWD-Bevollmächtigter in der Sowjetischen Besatzungszone in Deutschland.[2]
„Türöffner“ für die russische Annexion der Krim 2014
Der Linguist Rory Finnin schreibt in seiner Untersuchung über Stalins Verbrechen an den Krimtataren und die Poetik der Solidarität, Stalin habe mit der Deportation des gesamten krimtatarischen Volkes die Verbindung zwischen der Krim und den Krimtataren ein für alle Mal auslöschen wollen – durch ethnische Säuberung und durch einen diskursiven Ausschluss der Krimtataren aus dem sowjetischen Leben.[3]
Dabei haben wir es mit einer von vielen Kontinuitäten russischer imperialer Praxis zu tun. Bereits im Zuge der russischen Annexion der Krim 1783 wurden viele Krimtataren ins Osmanische Reich vertrieben. In der Folge hat Russland den Krimtataren immer misstraut, während diese um ihre Rechte kämpften. Einer der gegenwärtig wichtigsten ukrainischen Historiker, Serhii Plokhy, schreibt in einer Kurzrezension zu Finnins Buch: „Die Deportation der Krimtataren aus ihrer angestammten Heimat 1944 war nicht nur eines der Verbrechen des Stalinismus. Es war auch der Triumph kolonistischer Siedler, der die Tür für die russische Annexion der Krim 2014 öffnete.“[4]
Während anderen deportierten Völkern (wie Balkaren, Inguschen, Kalmüken, Karatschajern und Tschetschenen) nach ihrer Rehabilitierung 1956 die Rückkehr an ihre früheren Wohnsitze gestattet wurde, galt das für die Krimtataren ausdrücklich nicht. Damit begann ihr Kampf um Rückkehr auf die Krim – oft unter Berufung auf Lenin, der 1921 die Autonome Sozialistische Sowjetrepublik der Krim geschaffen hatte.[5] 1967 hob das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR zwar endlich die Anschuldigung der Kollaboration auf und rehabilitierte die Krimtataren, verweigerte ihnen aber weiterhin das Recht zur Rückkehr in ihre Heimat. Der General und Dissident Petro Hryhorenko, der sich für die Krimtataren einsetzte, erklärte: „Es war der verlogenste und heuchlerischste Ukas, der je in der krimtatarischen Angelegenheit erlassen wurde.“[6]
Sacharow für die Krimtataren
Auch Andrej Sacharow solidarisierte sich mit den Krimtataren. Diese wandten sich etwa mit Briefen an ihn in der Hoffnung, er könne ihnen helfen. Ein solcher Brief erschien im Mai 1976 in der Chronik der laufenden Ereignisse.[7] Hier schilderte Resmija Junusovaja, die auf eigene Faust mit ihrer Familie auf die Krim zurückgekehrt war, die Repressionen:
„… Am 13. Mai 1976 stürmte eine Bande unter Leitung des Parteisekretärs der Kolchose ‚Gornyl‘ Sidorov in mein Haus. Ohne irgendein Dokument vorzuzeigen, schubsten sie mich weg und begannen, unsere Sachen auf die Straße zu werfen. Es war um 9.30 Uhr morgens. Meine Tochter lag im Bett, und als sie die Situation erblickte, begann sie völlig erschreckt mit fremder Stimme zu schreien. Infolgedessen bekam sie Nasenbluten. Ich ließ alles liegen und suchte Hilfe für das Kind. In dieser Zeit, den Moment nutzend, holte der Parteisekretär den Bulldozer und sie demolierten das Haus. Die Sachen warfen sie auf die Straße, wo meine Familie mit einem kranken, gelähmten Kind bis zum heutigen Tag sitzt.
Alle vier Brüder meines Mannes sind tapfer im Krieg gefallen, das große Vaterland verteidigend, vor allem aber ihre kleine Heimatregion, ihr Haus, ihre Nächsten und Verwandten.“[8]
Dieses Vorgehen wurde zwei Jahre später per Beschluss sanktioniert. Andrej Sacharow erinnert sich:
„Im Sommer 1978 nahm der Ministerrat der UdSSR die Resolution Nr. 700 an, die den MWD-Organen neue weitreichende Vollmachten gab, die Krimtataren aus der Krim auszusiedeln wie auch ihre Rückkehr auf die Halbinsel zu behindern. Diese Resolution galt offiziell als geheim, doch auf der Krim zitierte man sie den Tataren gegenüber unverhohlen und drohend bei der Miliz und in anderen sowjetischen Behörden. Der Resolution gemäß wurden spezielle MWD-(oder KGB-) Unterabteilungen geschaffen, die brutale Aussiedlungsaktionen – man zerstörte Häuser, mißhandelte Personen und zettelte Pogrome an – durchführten. Die amtliche Meldung und der Arbeitsantritt von Tataren sowie der Verkauf von Häusern an sie wurde kategorisch verboten.
Ich rief Albert Iwanow an, der im Zentralkomitee für die Funktionen des MWD (Emigration und Reisen, die Situation der Lager, amtliche Anmeldungen u.ä.) zuständig war, und fragte ihn, ob die Informationen über die Resolution Nr. 700 wahr seien. Er bejahte. Auf meinen Vorwurf, dass dies eine nationale Diskriminierung der Krimtataren und eine Ungerechtigkeit einem Volk gegenüber sei, das schon 35 Jahre zuvor zum Objekt der Verbrechen Stalins und seiner Verwaltung geworden war, ging er nicht ein, sondern sagte nur: ‚Wie dem auch sei, die Krimtataren haben auf der Krim nichts zu suchen. Ihr Platz ist dort besetzt. Wir können die Ukrainer nicht aussiedeln.‘[9]
Meinen Einwand, dass niemand die Aussiedlung der Ukrainer verlange – es gebe auf der Krim nicht weniger Platz als in jedem anderen Gebiet -, dass es einzig und allein darauf ankomme, die nationale Diskriminierung zu beenden, beantwortete Iwanow ebenfalls nicht.
Die Aussiedlungen der Krimtataren gingen weiter. Sie hatten auch schon vor der Annahme der Resolution Nr. 700 stattgefunden. Im Sommer 1978 hatte sich eine Milizeinheit dem Haus des Krimtataren Mussa Mamut genähert. Zum Zeichen des Protestes gegen die Verfolgung der Krimtataren übergoss Mussa sich mit Benzin und zündete sich an. […] Auf der Fahrt ins Krankenhaus sagte Mamut unter entsetzlichen Qualen: ‚Irgend jemand musste es tun!‘ Mussa Mamut starb im Krankenhaus.
Ich schrieb einen langen Brief über das Schicksal der Krimtataren in der UdSSR, über ihre nationale Diskriminierung und den Traum des ganzen Volkes, auf die Krim zurückzukehren, für den es sich mit gesetzlichen und gewaltlosen Methoden einsetzte. Diesen Brief schickte ich an den UNO-Generalsekretär Kurt Waldheim und an den amerikanischen UNO-Botschafter Andrew Young. Ich sandte die Briefe über die Botschaft der USA. Auf keines der beiden Schreiben erhielt ich eine Antwort.
Im Januar 1979 […] kamen wieder mehrmals Krimtataren zu mir und teilten mir neue empörende Beispiele von Willkür und Diskriminierung mit, die auf der Grundlage der Resolution Nr. 700 stattgefunden hatten. Ich beschloss, mich hinsichtlich des Problems der Krimtataren an Breschnew zu wenden, und bereitete ein entsprechendes Dokument vor.“[10]
Am 31. Januar 1979 richtete Andrej Sacharow diesen Offenen Brief an das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR und dessen Vorsitzenden Leonid Breschnew:
„Auf der Krim finden zur Zeit unter Hinweis auf den geheimen Erlass des Ministerrats der UdSSR Nr. 700 vom 15. August 1978 massenhaft brutale Aktionen der Aussiedlung von Krimtataren statt, die Zerstörung oder Konfiszierung der von ihnen gekauften Häuser, die Konfiszierung ihres Eigentums, die gerichtliche Verfolgung von Krimtataren, die wegen der antigesetzlichen diskriminierenden Politik der Staatsorgane ohne Registrierung sind. Kinder und Greise werden ohne warme Kleidung in der offenen Steppe dem harschen Winterwetter ausgesetzt. Viele Krimtataren sind zu unterschiedlichen Haftstrafen verurteilt.
Offizielle Ankündigungen, denen zufolge der Verkauf von Häusern an Krimtataren die Aussiedlung nach sich zieht, wurden veröffentlicht.
Diese Aktionen sind eine Verletzung der Menschenrechte von vielen Menschen, für die es keine Rechtfertigung gibt. Ich rufe Sie, ich rufe die höchsten Staatsorgane des Landes auf dafür einzutreten, nicht nur das begangene Unrecht zu korrigieren, sondern auch das historische Unrecht, das von der Stalinschen Administration vor 35 Jahren in Bezug auf das ganze [krimtatarische] Volk begangen wurde. Wenn jedoch dieser einzig möglichen Lösung geringfügige Kasten-Interessen lokaler Machthaber und falsche Ängste einiger Ihrer Berater im Wege stehen – ignorieren Sie diese. Nur so kann man die Schande von der UdSSR abwaschen und den Herd ununterbrochener Unsicherheit in unserem Land löschen.“[11]
Sacharow für Dschemilew
Seine Nobelpreisrede widmete Andrej Sacharow den in der Sowjetunion diskriminierten Gruppen und politisch Verfolgten. So erwähnte er darin auch die Krimtataren und namentlich Mustafa Dschemilew. Da die sowjetischen Behörden Sacharow nicht ausreisen ließen – unter dem Hinweis, er verfüge über wichtige militärische und staatliche Geheimnisse -, trug seine Frau Elena Bonner die Rede am 11. Dezember 1975 in Oslo vor. Darin verweist Sacharow auf die Verletzung grundlegender Menschenrechte, deren Einhaltung die Sowjetunion wenige Monate zuvor in der Schlussakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa verbürgt hatte:
„Die Freiheit zu reisen und selbst den Ort zu wählen, an dem man leben und arbeiten will, wird noch immer krass missachtet, davon sind Millionen Kolchosarbeiter ebenso betroffen wie Hunderttausende von Krimtataren, die vor dreißig Jahren grausam und brutal von der Krim deportiert wurden und denen bis zum heutigen Tag die Rückkehr in ihre Heimat verwehrt wird.“[12]
Im Februar 1976 richtete Andrej Sacharow einen Brief an den 25. Parteitag der KPdSU, in dem er eine Amnestie für politische Gefangene forderte und namentlich Mustafa Dshemilew nannte.[13] Dieser war und ist bis heute ein bedeutender Verteidiger der Rechte der Krimtataren. Zur Zeit der Deportation war er gerade sechs Monate alt. Als 1969 die Initiativgruppe zur Verteidigung der Menschenrechte in Moskau gegründet wurde, war Mustafa Dschemilew dabei. Die Bezeichnung als Initiativgruppe hat er aus der krimtatarischen Bewegung mitgebracht, die sich an den Orten ihrer Zwangsansiedlung in basisorientierten Initiativgruppen organisierte. Aufgrund seines Engagements für die krimtatarische Sache wurde er sieben Mal vor Gericht gestellt und verbrachte viele Jahre in Haft und in der Verbannung. Eine Gruppe junger Krimtataren schrieb in den 1970er Jahren an Amnesty International und an Andrej Sacharow: „Die Tragödie Mustafas ist die Tragödie eines ganzen Volkes, dem sie die Heimat, die Sprache, die Geschichte und die Kultur nahmen.“[14]
Mustafa Dschemilew war am 4. Juni 1975, kurz vor Ablauf einer einjährigen Haftstrafe, die er im Gebiet Omsk verbüßte, zum vierten Mal inhaftiert worden. Daraufhin trat er in den Hungestreik. In Sorge um dessen Leben schickte Andrej Sacharow zusammen mit Petro Hryhorenko am 19. Februar 1976 ein Telegramm an den 25. Parteitag:
„Mustafa Dschemilew […], inhaftiert aufgrund einer lügenhaften Anschuldigung, hungert den neunten Monat im Omsker Gefängnis. Die Ermittlung endete vor fünf Monaten. Das Gericht wird herausgezögert, rechnend mit einem tödlichen Ausgang. Verwandte und Freunde sind in Sorge um das Leben von Mustafa. […] Vom Gesichtspunkt der Rechtsprechung aus ist die Inhaftierung eines Sterbenden unsinnig und unmenschlich. Im Auftrag der Eltern bitten wir darum, auf das Gericht einzuwirken, Mustafa Dschemilew unverzüglich gegen Bürgschaft oder Kaution bis zum Prozess freizulassen.“[15]
Andrej Sacharow und Elena Bonner reisten zu dem Gerichtsverfahren gegen Dschemilew, der schließlich im April 1976 in Omsk stattfand. Weil der Prozess um einige Tage verschoben wurde, reisten sie zweimal an. Das KGB hatte wohl gehofft, sie würden diesen Aufwand scheuen. Sacharow und Bonner wurde der Zutritt zum Gerichtssaal verweigert. In seinen Erinnerungen schreibt Sacharow: „Wasfije, eine der Schwestern Mustafas, wurde aus dem Saal geschleppt, weil sie versucht hatte, ihm [Dschemilew] auf Tatarisch zu verstehen zu geben, dass Sacharow in Omsk sei.“[16] Als am zweiten Verhandlungstag auch die Mutter nicht mehr in den Gerichtssaal gelassen wurde, provozierten Bonner und Sacharow ein Handgemenge. Die sowjetische Nachrichtenagentur Tass unterrichtete ausländische Medien noch am selben Tag über „eine Schlägerei […], die das Akademiemitglied Sacharow und seine Frau […] angezettelt hätten.“[17] So erfuhr die Welt von dem Prozess gegen Dschemilew. Er wurde nach Artikel 190-1 des Strafgesetzbuches des RSFSR (Verleumdung des sowjetischen Staates) zu zweieinhalb Jahren Lagerhaft verurteilt.[18] Sacharow bemerkt zum Omsker Prozess:
„Während der Verhandlung hatte der Richter ein gutes Beispiel eines die Gesetze verleugnenden Staates gegeben. Er hatte erklärt: ‚Dshemiljow[19] behauptet also, dass sich Krimtataren auf der Krim nicht niederlassen können. Na und? Ich kann mich in Moskau nicht niederlassen – und beklage mich nicht darüber.‘ Der Vertreter des Gesetzes rechtfertigte eine Gesetzlosigkeit durch eine andere.“[20]
Und das Verbrechen der Deportation, mit dem das verweigerte Rückkehrrecht verbunden war, blendete der Richter völlig aus – auf diese Weise bagatellisierte er den Schmerz und die Anliegen der Krimtataren.
Im März 1979 fand in Taschkent der fünfte Prozess gegen Mustafa Dschemilew statt. Andrej Sacharow schreibt:
„Anfang 1979 wurde mir bekannt, dass man ein neues Verfahren gegen Mustafa Dshemiljow, der gerade erst aus der Haft entlassen worden war, angestrengt hatte. […] diesmal offiziell wegen einer Verletzung der ‚Überwachungsregeln.‘“[21]
Wieder reiste Sacharow zum Gerichtsort – nun nach Taschkent. Der Prozess war für den 1. März 1979 angesetzt, wurde aber wiederum vertagt. Sacharow blieb und hatte so Gelegenheit, viele Krimtataren persönlich kennenzulernen. In seinen Erinnerungen schreibt er, dass alle darin übereinstimmten, „dass nur legale, gewaltlose Methoden im Rahmen der bestehenden staatlichen Struktur zulässig und gerechtfertigt seien.“[22] Die Krimtataren diskutierten darüber, ob sie mit der dissidentischen Menschenrechtsbewegung zusammengehen sollten, was einige ablehnten, weil sie fürchteten,
„dass die Schläge der Repressionen, welche auf die Bürgerrechtler einhagelten, auch sie treffen könnten. Andere (die Mehrheit) glaubten, dass die Sache der Krimtataren ein organischer Bestandteil des allgemeinen Komplexes der Menschenrechte in der UdSSR sei […] und dass wir nur gemeinsam etwas erreichen könnten.“[23]
Diesmal wurde Mustafa Dschemilew zu eineinhalb Jahren Haft, ersetzt durch vier Jahre Verbannung in Jakutien, verurteilt.[24]
Im November 1983 wurde Dschemilew erneut inhaftiert. Andrej Sacharow konnte zum sechsten Prozess gegen ihn nicht anreisen, weil er sich selbst in Gorki in der Verbannung befand. Wiederum der Verleumdung angeklagt, verurteilte das Stadtgericht Taschkent Dschemilew am 10. Februar 1984 zu drei Jahren Lagerhaft, die er im fernöstlichen Gebiet Magadan verbüßen musste.[25]
Die Freilassung der politischen Gefangenen hatte für Sacharow höchste Priorität.
Michail Gorbatschow hatte in einem Interview, das am 8. Februar 1986 in der französischen kommunistischen Zeitung L’Humanité erschienen war, behauptet, in der Sowjetunion gäbe es keine politischen Gefangenen. Am 19. Februar 1986 schrieb ihm Sacharow einen Brief, in dem er die Inhaftierung von Menschen aus politischen Motiven als Menschenrechtsverletzung bezeichnet und 13 Gefangene namentlich erwähnt – unter ihnen Dschemilew.[26]
Am 16. Dezember 1986 rief Gorbatschow Sacharow auf einem eigens für dieses Gespräch am Vorabend in dessen Wohnung in Gorki installierten Telefon an, um ihm und seiner Frau die Rückkehr nach Moskau anzubieten. Den Beschluss dazu hatte das Politbüro am 1. Dezember gefasst. Sacharow lenkte das Gespräch sofort auf die politischen Gefangenen und flehte Gorbatschow an, sie freizulassen. Gorbatschow bestätigte, Sacharows Brief vom Februar erhalten zu haben, antwortete aber ausweichend auf dessen Forderung.[27]
Am selben Tag stand Dschemilew, dessen sechste Lagerstrafe gerade geendet hatte, in Magadan erneut vor Gericht. Er wurde schuldig gesprochen, die Strafe aber zur Bewährung ausgesetzt. Er verließ das Gericht als freier Mann.[28]
Im März 1988 äußerte sich Sacharow in seinem Artikel „Die Unausweichlichkeit der Perestroika“ erneut zur Lage der Krimtataren:
„Die vom Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR geschaffene Kommission hat bislang keinen Weg gefunden, Gerechtigkeit wiederherzustellen. Lokal wird die Diskriminierung der Krimtataren fortgesetzt, die auf die Krim zurückkehren möchten – Absagen mit nationalem Vorzeichen bei der Registrierung und beim Erwerb von Häusern, provozierende Agitation in der Presse. Die Situation spitzt sich zu. Immer noch wird insbesondere inoffiziell das Argument von der Zusammenarbeit der Krimtataren mit den Deutschen während des Krieges benutzt. Aber die Übertragung der Verantwortung für die Taten Einzelner auf ein ganzes Volk ist unstatthaft. Die Aktivisten der nationalen Bewegung werden Extremisten genannt, während sich die gesamte Bewegung immer in streng gesetzlichen Formen bewegte unter Ausschluss jeglicher Gewalt.“[29]
Dschemilew für Sacharow
Der tschechische Philosoph Jan Patočka beschrieb die Haltung der Dissidenten als „spontane, von jeglicher äußerlichen Verbindlichkeit freie Solidarität all jener, die die Bedeutung der moralischen Denkweise für die konkrete Gesellschaft und ihr normales Funktionieren begriffen haben.“[30] Diese Haltung repräsentierte auch Mustafa Dschemilew, der sich sowohl in der sowjetischen Menschenrechtsbewegung als auch in der (zahlenmäßig viel umfangreicheren) krimtatarischen Bewegung engagierte. Er protestierte gegen den Entzug der Staatsbürgerschaft von Petro Hryhorenko (13. Februar 1978) und gegen die Verurteilung des Initiators der Moskauer Helsinki-Gruppe Jurij Orlow (18. Mai 1978). Mit seinem Brief „An alle Muslime der Welt“ vom 5. Dezember 1981 rief er zur Verteidigung von Andrej Sacharow und Elena Bonner auf, die sich in der Verbannung in Gorki im Hungerstreik befanden, um die Ausreise ihrer Schwiegertochter zu deren Mann in den USA durchzusetzen.[31]
Der Brief „An alle Muslime der Welt“ wurde zum Gegenstand des sechsten Prozesses gegen Mustafa Dschemilew. Obwohl er den Brief gar nicht abgeschickt hatte, weil zwischenzeitlich die Ausreise von Sacharows Schwiegertochter genehmigt worden war, diente er als Grundlage für die Anschuldigung der Verleumdung.[32]
Die Staatsanwältin Umarowa erklärte am 10. Februar 1984:
„In der von dem Angeklagten verfassten und verbreiteten Erklärung ‚An alle Muslime der Welt‘ schreibt er, dass angeblich das Leben Sacharows, den der Angeklagte eine ‚großen Humanisten unserer Zeit‘ nennt, und seiner Frau Elena Bonner bedroht sei, weil sie hungern und das in einem ‚qualvollem Tod‘ enden könnte. Aber aus den Mitteilungen unserer Presse wissen wir gut, dass das Ehepaar Sacharow in Gorki in völliger Sicherheit und Ruhe lebt. Auf diese Weise verleumdet der Angeklagte auch in diesem Dokument bewusst die sozialistische Realität mit dem Ziel, diese zu verunglimpfen.“[33]
Mustafa Dschemilew hatte zwar erklärt, dass er in einem bereits 15 Tage andauernden Hungerstreik, wenn dieser weiter fortgesetzt werde, durchaus eine Lebensgefahr sehe. Das Gericht erwiderte aber, dies habe keinen Bezug zur Beschuldigung.[34]
Doch es wurde noch absurder. Als der Richter fragte, „Sagen Sie, in welcher Beziehung stehen Sie zum Akademiemitglied Sacharow und seiner Frau Bonner, dass Sie sich entschieden, mit einem Appell für ihre Verteidigung einzutreten?“, antwortete Dschemilew:
„Sie fragen so, als wenn ich, hätte ich vor der Haft als Sanitärtechniker gearbeitet, unbedingt nur Beziehungen zu Sanitärtechnikern unterhalten dürfte. Andrej Sacharow – das ist ein der ganzen Welt bekannter Menschenrechtler, ein sehr gewissenhafter Mensch. Er und seine Frau Bonner haben sich wiederholt für die Rechte der Krimtataren eingesetzt. Deshalb konnte ich nicht gleichgültig bleiben, als Gefahr für ihr Leben entstand.“[35]
Dem Richter war dieser dissidentische Geist der Solidarität vollkommen fremd, und so fragte er nach: „Das bedeutet, Sie teilen völlig seine Ansichten?“ Dschemilew erklärte:
„Tatsächlich, viele seiner Ansichten stimmen mit meinen eigenen überein, doch darum geht es nicht. Ich teile kommunistische Ansichten überhaupt nicht, habe aber nicht nur einmal Dokumente in Verteidigung von Kommunisten unterzeichnet, wenn sie wegen ihrer Menschenrechtstätigkeit festgenommen und verfolgt wurden.“[36]
In den Ermittlungen zum sechsten Prozess gegen Mustafa Dschemilew spielte ein weiterer Brief eine Rolle, den er am 6. Februar 1983 an den Journalisten und krimtatarischen Dissidenten Dschebbar Akim geschrieben hatte. Darin benannte er als eine der Aufgaben der krimtatarischen Bewegung den Einsatz für die Freilassung und Rehabilitierung der Dissidenten, die sich für die Krimtataren engagiert haben: Alexander Lawut, Alexej Kosterin, Petro Hryhorenko und Andrej Sacharow.[37] Der Vernehmer W.A. Asarjan fragte Mustafa Dschemilew, ob die Tätigkeit der vier Genannten denn wirklich der Verteidigung der Krimtataren diene und nicht vielmehr ein Auftreten gegen den realen Sozialismus sei. Woraufhin Dschemilew konterte: „[…] mit der Freilassung und Rehabilitierung der genannten Kameraden würden die Organe einen Schritt in Richtung eines attraktiveren ‚realen Sozialismus‘ machen.“[38]
Gemeinsam gegen den Krieg in Afghanistan
Über die gegenseitige Solidarität hinaus verbanden die Dissidenten natürlich auch gemeinsame Anliegen. Eines davon war der Protest gegen die sowjetische Intervention in Afghanistan Ende 1979.
Mustafa Dschemilew, der sich damals in Verbannung in Jakutien befand, schrieb am 12. Januar 1980 einen Brief an Andrej Sacharow. Darin bat er darum, seine Unterschrift unter eine kollektive Erklärung zu setzen mit der Forderung, die sowjetischen Truppen aus Afghanistan zurückzuholen und die für die Invasion Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen.[39]
Auch dieser Brief wurde zum Gegenstand des sechsten Prozesses gegen Dschemilew 1983/84 in Taschkent. Als der Richter ihn fragte, wer seiner Meinung nach zur Verantwortung gezogen werden solle, antwortete Dschemilew: „In erster Linie Breschnew.“ Daraufhin schaute ein Wachsoldat verwirrt erst den Richter, dann Dschemilew und schließlich die Leute im Saal an. Sein Maschinengewehr fiel ihm aus den Händen, der Offizier schnauzte ihn an, Gelächter im Saal.[40]
Tatsächlich hat die Moskauer Helsinki-Gruppe am 29. Januar 1980 ihr Dokument Nr. 119 „Über Afghanistan“ verfasst. Darin bezogen sich die Unterzeichner (unter ihnen Dschemilew und Sacharow) auf die Resolution der UN-Vollversammlung, die am 14. Januar 1980 mit den Stimmen von 104 Staaten den sofortigen, bedingungslosen und vollständigen Rückzug der ausländischen Truppen aus Afghanistan gefordert hatte.[41]
In seiner Vernehmung am 20. Juli 1983 erklärte Dschemilew:
„Ich sehe im Einmarsch der sowjetischen Truppen in Afghanistan und dem bis zum heutigen Tag anhaltenden Blutvergießen in dem Land keine ‚internationale Hilfe‘. Die Äußerung meiner Meinung zu jeglicher Frage des internen Lebens unseres Landes oder bezüglich Ereignissen im Ausland zähle ich zu meinen selbstverständlichen Rechten, verbürgt in der Verfassung der UdSSR und den internationalen Abkommen über bürgerliche und soziale Rechte, welche die sowjetische Regierung ratifiziert hat.“[42]
Epilog
Mustafa Dschemilew kehrte im Mai 1989 auf die Krim zurück. 1991 wurde er zum Vorsitzenden der Medschlis (Volksversammlung) des krimtatarischen Volkes gewählt und übte dieses Amt bis 2013 aus. Seit 1998 ist er außerdem Abgeordneter des ukrainischen Parlaments. Seit der Besetzung der Krim durch russische Truppen 2014 verweigern die russischen Behörden ihm die Einreise.
Ende der 1980er bis Anfang der 1990er Jahre kehrten etwa 280.000 Krimtataren in ihre Heimat zurück. Seit der russischen Besetzung 2014 haben zehntausende Menschen die Krim verlassen – unter ihnen 40.000-70.000 Krimtataren. 2016 verboten russländische Behörden die Medschlis. Seit Februar 2022 inhaftierte Russland 138 Krimbewohner aus politischen Motiven – 105 von ihnen Krimtataren (die 2001 nur 12 Prozent der Bevölkerung der Halbinsel ausmachten). Die Besatzer bauen (unter dem Vorwand von Restaurierungsarbeiten) sukzessive den Khan-Palast in Bachtschissarai, das zentrale Kulturdenkmal der Krimtataren, ab. Sie wollen die krimtatarische Kultur auslöschen. Mit dem Krieg gegen die Ukraine und der Verfolgung der Krimtataren setzt Russland seine imperiale Politik grausam fort.
Uta Gerlant ist Osteuropahistorikerin. 2021 war sie Mitbegründerin der Deutschen Sacharow Gesellschaft und engagiert sich seitdem in deren Vorstand.
[1] Sacharov, A., Neizbežnost’ perestrojki // Inogo ne dano, Moskau 1988, S. 130, zitiert nach Bekirova, Gul’nara, Krimtatarskaja problema v SSSR (1944-1991), Simferopol’ 2004, S. 246 (Zitate, auch nachfolgend, übersetzt von UG)
[2] Fisher, Alan, The Crimean Tatars, Stanford 1978, S. 165; s.a. Petrov, Nikita, Die sowjetischen Geheimdienstmitarbeiter in Deutschland, hrsg. v. Memorial International, Berlin 2010, S. 575f.
[3] Finnin, Rory, Blood of Others. Stalin’s Crimean Atrocity and the Poetics of Solidarity, Toronto, Buffalo, London 2023, S. 76
[4] Ebenda, S. i
[5] Bekirova, problema, S. 69
[6] Grigorenko, Pjotr, Erinnerungen, München 1981, S. 428; s.a. Sacharow, Andrej, Mein Leben, München, Zürich (2) 1991, S. 525
[7] Die Chronika Tekuščich Sobytij (ChTS) war das zentralen Menschenrechtsjournal, das 1968-1982 (mit einer Unterbrechung zwischen 1972 und 1974) im Samizdat, also im Selbstverlag, erschien.
[8] ChTS Nr. 40 vom 20.5.1976, New York 1979, S. 103, zitiert nach Bekirova, problema, S. 191f.
[9] Tatsächlich waren es vor allem Russen, die auf der Krym angesiedelt wurden. Bekirova, problema, S. 28
[10] Sacharow, Leben, S. 574f.
[11] Bekirova, problema, S. 210
[12] Sacharow, Andrej Dimitrijewitsch, Furcht und Hoffnung. Neue Schriften bis Gorki 1980, Wien, München, Zürich, Innsbruck 1980, S. 31; Erwähnung von Dschemilew ebenda S. 34
[13] Ob’ekt nabljudenija. KGB protiv Sacharova, hrsg. v. NIPC Memorial, Moskau 2023, S. 362f.
[14] Bekirova, problema, S. 176
[15] ChTS Nr. 39 vom 12.3.1976, New York 1976, S. 55, zitiert nach Bekirova, problema, S. 175f.; Mustafa Dschemilew beendete auf Bitten seiner Mutter, Andrej Sacharows und Petro Hryhorenkos den Hungerstreik nach 303 Tagen (unter Zwangsernährung). Bekirova, problema, S. 179
[16] Sacharow, Leben, S. 526f.
[17] Ebenda, S. 527f.; s.a. Ob’ekt, S. 406f
[18] Šestoj process Mustafy Džmileva. Materialy sledstvija i zapis’ sudebnogo processa 1983-1984 gg. Taškent, Simferopol’ 2001, S. 364-368, S. 486 (nachfolgende Zitate übersetzt von UG)
[19] Etwaige unterschiedliche Schreibweisen von Personennamen insbesondere in Zitaten rühren daher, dass in der Literatur unterschiedlich transskribiert wurde.
[20] Sacharow, Leben, S. 528
[21] Ebenda, S. 585, Bekirova, problema, S. 183
[22] Sacharow, Leben, S. 585
[23] Ebenda, S. 585f
[24] Šestoj process, S. 487
[25] Słownik Dysydentów. Czołowe postacie ruchów opozycyjnych w krajach komunistycznych w latach 1956-1989, Band 2, hrsg. Von Karta, Warszawa 2007, S. 732; Vesti iz SSSR. Prava čeloveka, hrsg. v. Cronid Lubarsky, Bd. 2 1982-1984, München o.J., S. 354
[26] Ob’ekt, S. 566-569
[27] Sacharow, Leben, S. 739f.
[28] Słownik, S. 732
[29] Sacharov, A., Die Unausweichlichkeit der Perestrojka // Eine Alternative gibt es nicht, Moskau 1988, S. 130, zit. nach Bekirova, problema, S. 245f.
[30] Patočka, Jan, Schriften zur tschechischen Kultur und Geschichte. Hrsg. v. Klaus Nellen, Petr Pithart, Milo Pojar, Wien, Stuttgart 1992, S. 318
[31] Šestoj process, S. 9
[32] Ebenda, S. 194, S. 279 und S. 445f
[33] Ebenda, S. 412
[34] Ebenda, S. 381
[35] Ebenda, S. 399
[36] Ebenda
[37] Ebenda, S. 196
[38] Ebenda, S. 277f.
[39] Ebenda, S. 402
[40] Ebenda
[41] Dokumenty Moskovskoj Chel’sinkskoj gruppy 1976-1982, hrsg. v. Moskauer Helsinki Gruppe und Memorial, Moskau 2006, S. 439f.; https://digitallibrary.un.org/record/14172?ln=en&v=pdf
[42] Šestoj process, S. 273; Erst im Februar 1989 verließen die sowjetischen Truppen nach fast zehn Jahren Krieg Afghanistan.
Collage: Andrei Samokhotkin