100 Jahre Sacharow

Am 21. Mai 2021 wäre Andrej Sach­a­row 100 Jahre alt gewor­den.
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Der Phy­si­ker, Dissident und Friedensnobelpreisträger starb 1989, aber seine zen­tra­len Themen sind heute aktueller denn je: Die Erosion der inter­na­tio­na­len Frie­dens­ord­nung, die Über­las­tung des Öko­sys­tems und das Erstar­ken autoritärer Regimes fordern zum Handeln heraus.

Sach­a­rows Ver­mächt­nis ist viel­fäl­tig. Als Wis­sen­schaft­ler fühlte er sich für die Folgen seiner nukleraren Erfin­dun­gen ver­ant­wort­lich, welche die Zukunft der Zivilisation gefähr­den könnten.  Sach­a­row ver­tei­digte das Konzept der intel­lek­tu­el­len Frei­heit als grund­le­gende Vor­aus­set­zung für die Lösung glo­ba­ler Pro­bleme. Er kombinierte kom­pro­miss­lo­ses Eintreten für seine Ideale mit einem rea­lis­ti­schen Ansatz, um Umwelt­schutz, nuklea­re Abrüs­tung und internationale Sicherheit zu erreichen.

Im Zentrum seines gesell­schaft­li­chen Enga­ge­ments stand der Kampf für Men­schen­rechte, ins­be­son­dere für die Frei­las­sung poli­ti­scher Gefan­ge­ner. Sacharows Schlüs­sel­bot­schaft ist, dass Frieden, Men­schen­rechte und tech­ni­scher Fort­schritt Teile eines Ganzen sind: In keinem der drei Berei­che kann man Erfolg haben, ohne die anderen zu berücksichtigen.

Andrej Sach­a­row wurde zu Leb­zei­ten und in den ersten Jahren nach seinem Tod all­ge­mein aner­kannt. 1975 erhielt er den Frie­dens­no­bel­preis. Das Euro­päi­sche Par­la­ment rief 1988 den Sach­a­row-Preis für geis­tige Frei­heit ins Leben, der 2021 dem inhaftierten russischen Oppositionellen Alexej Nawalny verliehen wurde.

Obwohl in Deutsch­land (etwa in Schwe­rin und Nürn­berg) Straßen und Plätze seinen Namen tragen, war das Ver­hält­nis zu Sach­a­row zu dessen Leb­zei­ten hierzulande schwie­rig. Die kremltreue DDR-Pro­pa­ganda bewertete das gesell­schaft­li­che Enga­ge­ment des Wis­sen­schaft­lers negativ. Im Westen Deutschlands war Sach­a­row in den Aus­ein­an­der­set­zun­gen um Ost­po­li­tik, Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­gung, linken Ter­ro­ris­mus und kon­ser­va­ti­ve Wende für Intel­lek­tu­elle und die Zivil­ge­sell­schaft schwer ein­zu­ord­nen und blieb ihnen des­we­gen fremd (vgl. Michael Hänel: Zwi­schen allen Stühlen: der Mahner und Huma­nist Andrej Sach­a­rov. Zeitschrift OSTEUROPA, 11–12/2014).

Aktueller denn je

In den 1990er Jahren schien es, als seien Sacharows Haupt­ziele erreicht. Die Gefahr eines Atom­krie­ges nahm dra­ma­tisch ab, der Kalte Krieg ging zu Ende und Deutsch­land wurde wie­der­ver­ei­nigt. Die Men­schen­rechts­be­we­gung machte welt­weit Fort­schritte. Die Zahl der Demokratien nahm zu, und Russ­land schien sich ebenfalls demokratisch zu entwickeln. Sach­a­rows Ver­mächt­nis schien an Rele­vanz für die gesell­schaft­li­che Dis­kus­sion zu ver­lie­ren. Im ver­ei­nig­ten Deutsch­land blieben seine Gedan­ken weit­ge­hend unbekannt.

Doch im 21. Jahr­hun­dert stehen die zen­tra­len Themen aus Sach­a­rows Wirken erneut ganz oben auf der Agenda. Regio­nale Kon­flikte, die Erosion der inter­na­tio­na­len Frie­dens­ord­nung, nukleare Auf­rüs­tung sowie Umweltkatastrophen sind wieder zu drän­gen­den Fragen gewor­den. Das Inter­net, dessen Ent­ste­hung Sach­a­row vor­her­ge­sagt hatte, erweist sich als Inno­va­tion, die nicht nur intel­lek­tu­elle Frei­hei­ten stärkt, sondern auch neue Bedro­hun­gen mit sich bringt. Natio­na­lis­mus, Ras­sis­mus und andere Arten von Into­le­ranz, das Erstar­ken auto­kra­ti­scher Regime und anti­de­mo­kra­ti­scher Ideo­lo­gien stellen wach­sende Her­aus­for­de­rung für den Schutz der Men­schen­rechte dar.

Für viele rus­si­sche Bür­ge­rin­nen und Bürger, die die Werte von Demo­kra­tie, Rechts­staat­lich­keit und Huma­nis­mus teilen, bleibt Andrej Sach­a­row gerade in einer Zeit, in der diese Werte in der Russischen Föderation gefähr­det sind, ein mora­li­scher Kompass.

Sach­a­rows 100. Geburts­tag bietet einen guten Anlass, die Aktua­li­tät des Nobel­preis­trä­gers als Wis­sen­schaft­ler und huma­nis­ti­schen Denker, demo­kra­ti­schen Poli­ti­ker und wich­tige Iden­ti­fi­ka­ti­ons­fi­gur für die Men­schen­rechts­be­we­gung sicht­ba­rer zu machen und in einer Zeit wach­sen­der Ent­frem­dung zwi­schen Russ­land und Deutsch­land zum Gespräch über fun­da­men­tale Grund­werte des Zusam­men­le­bens in Europa beizutragen.